Herr Sergius und Jean hatten sorgfältig die Karte studiert und sich dabei die speziellen Weisungen zu Nutze gemacht, welche die junge Indianerin ihnen gab. Kayette kannte die meisten Dörfer, die man passieren mußte, und versicherte, daß keinerlei Gewässer die Fahrt der Belle-Roulotte ernstlich behindern werde.
Übrigens war noch nicht die Rede davon, das Youkonthal zu verlassen. Man würde vorerst auf dem rechten Flußufer bis zu dem Posten Neku vordringen und das Dorf Nuclakayette passieren; von Nuclakayette bis ans Fort Noulato würde man dann noch achtzig Meilen zurückzulegen haben. Dort erst würde das Gefährt den Youkon verlassen, um sich direkt nach Westen zu wenden.
Die Jahreszeit war noch immer günstig; die Tage waren warm, wenngleich man nachts ein fühlbares Sinken der Temperatur konstatierte. Somit hatte Herr Cascabel, wenn nicht etwa unvorhergesehene Verzögerungen eintraten, die Gewißheit, Port-Clarence zu erreichen, bevor der Winter ihm unüberwindliche Hindernisse in den Weg legte.
Man wird sich vielleicht wundern, daß eine solche Reise verhältnismäßig so leicht von statten ging. Aber ist das nicht immer der Fall in ebenen Ländern, wenn die schöne Jahreszeit, die Länge des Tages, die Milde des Klimas die Reisenden begünstigt? Jenseits der Beringstraße würde das anders werden, wenn die sibirischen Steppen ringsum mit dem Horizont verschwammen, wenn der Winterschnee sie unabsehbar bedeckte und der Nordsturm darüber hinfegte. Als man eines Abends von den kommenden Gefahren sprach, rief der zuversichtliche Cascabel:
»Ei! wir werden schon damit fertig werden!«
»Ich hoffe es,« antwortete Herr Sergius. »Aber ich rate Ihnen, sich, sowie Sie die sibirische Küste betreten, nach Südwesten zu wenden, um die südlicheren Gebiete zu gewinnen, wo die Belle-Roulotte weniger von der Kälte zu leiden haben wird.«
»Das ist unsere Absicht, Herr Sergius,« antwortete Jean.
»Und Sie werden um so vernünftiger daran thun, meine Freunde, als die Sibirier nicht zu fürchten sind, wenn man sich nicht etwa. wie Clou sagen würde. unter die Stämme der Nordküste wagt. In der That wird die Kälte Ihr größter Feind sein.«
»Wir sind darauf vorbereitet,« sagte Herr Cascabel, »und wir werden die Reise schon überstehen. Wir hegen nur ein Bedauern, Herr Sergius; nämlich, daß Sie nicht mit uns reisen werden!«
»Ja,« fügte Jean hinzu, »ein tiefes Bedauern!«
Herr Sergius fühlte, wie lieb die Familie ihn gewonnen hatte und wieviel Freundschaft er selber für sie empfand. Je länger ihr vertrauter Umgang währte, desto inniger wurde ihre gegenseitige Zuneigung. Die Trennung würde eine schmerzliche sein; und würden die Zufälligkeiten ihrer so verschiedenen Existenzen sie je wieder zusammenführen? Dann würde Herr Sergius auch Kayette mit sich fort nehmen, und er hatte Jeans Freundschaft für die junge Indianerin schon lange wahrgenommen. Hatte Herr Cascabel dies in dem Herzen seines Sohnes bereits so rege Gefühl bemerkt? Herr Sergius wußte es nicht zu sagen. Was Cornelia betrifft, so glaubte er, da die vortreffliche Frau sich nie über dies Thema geäußert hatte, dieselbe Zurückhaltung beobachten zu sollen. Wozu hätte auch eine Auseinandersetzung gedient? Es war eine andere Zukunft, welche der Adoptivtochter des Herrn Sergius harrte, und der arme Jean gab sich unerfüllbaren Hoffnungen hin.
Schließlich ging die Reise ohne große Hindernisse oder Anstrengungen von statten. Port-Clarence würde erreicht sein, bevor der Winter die Beringstraße passierbar machte, und man würde dort eine gewisse Zeit zubringen müssen. Folglich war keine Notwendigkeit vorhanden, Menschen und Tiere übermäßig anzustrengen.
Indessen mußte man doch immer auf einen möglichen Zwischenfall gefaßt sein. Ein verletztes oder krankes Pferd, ein gebrochenes Rad konnte die Belle-Roulotte ernstlich in Verlegenheit bringen. Aus diesen Gründen mußte man die strengste Vorsicht beobachten.
Während der ersten drei Tage zog die Reiseroute sich an dem gen Westen fließenden Strome hin; als der Youkon aber nach Süden abzubiegen begann, schien es ratsam, die Richtung des fünfundsechzigsten Breitegrades einzuhalten
An dieser Stelle war der Fluß sehr geschlängelt und das Thal verengte sich merklich zwischen mittelhohen Hügelreihen, welchen die Karte auf Grund ihrer basteiähnlichen Formation den Namen »Wälle« beilegt.
Es war mit einigen Schwierigkeiten verbunden, aus diesem Labyrinth hinauszugelangen, und man traf alle möglichen Vorsichtsmaßregeln, um dem Gefährte einen Unfall zu ersparen. In den steileren Pässen lud man es zum Teile ab; man schob an den Rädern, »und das mit um so mehr Grund,« bemerkte Herr Cascabel, »als die Wagner in dieser Gegend sehr selten zu sein scheinen!«
Man hatte auch einige Creeks zu passieren, unter anderen den Nocolocarguot, den Shetchaut, den Klakencot. Zum Glück waren dieselben in dieser Jahreszeit nicht sehr tief, und so fiel es nicht schwer, erträgliche Furten zu entdecken.
Was die Indianer betrifft, so gab es deren wenige, oder keine in diesem Teile der Provinz, der ehemals von zahlreichen, zu den »Leuten der Mitte« gehörigen und jetzt beinahe gänzlich ausgestorbenen Stämmen durchstreift wurde. Von Zeit zu Zeit kam eine Familie vorüber, welche dem südwestlichen Küstengebiete zustrebte, um sich dort während des Herbstes mit Fischerei zu befassen.
Manchmal begegnete man auch einigen Händlern, die von der Mündung des Youkon kamen und die verschiedenen Posten der russisch-amerikanischen Gesellschaft zum Reiseziel hatten. Sie betrachteten sehr erstaunt den bunt bemalten Wagen und dessen Insassen. Und nachdem man einander glückliche Reise gewünscht, setzten sie ihren Weg gen Osten fort.
Am dreizehnten August langte die Belle-Roulotte vor dem hundertzwanzig Meilen vom Fort Youkon entfernten Dorfe Nuclakayette an. Es ist dies eigentlich bloß eine Faktorei, in welcher der Pelzhandel betrieben wird und über welche die moskowitischen Beamten selten hinausgehen. Von den verschiedenen Punkten Russisch-Asiens und der alaskischen Küste kommend, treffen sie hier zusammen, um den Käufern der Hudsonbai-Gesellschaft Konkurrenz zu machen.
So ist Nuclakayette denn ein Sammelpunkt, wohin die Eingeborenen das Pelzwerk bringen, das sie während der Winterzeit eingeheimst haben.
Nachdem er sich von dem Flusse entfernt hatte, um den zahlreichen Windungen desselben zu entgehen, näherte Herr Cascabel sich ihm wiederum bei diesem Dorfe, welches sehr angenehm inmitten kleiner Hügel und freundlicher Bäume lag. Einige Holzhütten gruppierten sich um die Palissade, die das
Fort schützte. Bäche rieselten durch die grasige Ebene. Zwei bis drei kleine Fahrzeuge schaukelten am Ufer des Youkon. Das Ganze bot einen gefälligen Anblick und lud zur Ruhe ein. Was die in der Umgegend lebenden Indianer betrifft, so waren dieselben Tananas, die, wie gesagt, dem schönsten Eingeborenen-Typus von Nord-Alaska angehören.
So anziehend der Ort auch war, so verweilte die Belle-Roulotte doch nur vierundzwanzig Stunden darin. Man fand das genug für die sowieso sehr geschonten Pferde. Herr Cascabel beabsichtigte, sich länger in Noulato aufzuhalten, einem ziemlich bedeutenden und besser mit Vorräten versehenen Fort, wo man einige Einkäufe im Hinblick auf die Reise durch Sibirien machen würde.
Überflüssig, zu erwähnen, daß Herr Sergius und Jean, manchmal in Begleitung des jungen Xander, unterwegs der Jagd oblagen. Das Wild bestand noch immer aus Elen- und Renntieren, welche sich in den Ebenen umhertrieben und ihre Lager in den Wäldern, oder vielmehr unter den hier ziemlich spärlichen Baumgruppen hatten. In den sumpfigen Gegenden boten auch Wildgänse, Enten und Wasserschnepfen Anlaß zu hübschen Schüssen, und die Jäger vermochten sogar einige jener Reiher zu erlegen, welche im allgemeinen keine sehr geschätzte Speise bilden.
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