Jules Verne - Zwei Jahre Ferien

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ÜBER DIESES BUCH Die Besatzung ist nicht an Bord, als sich in der Nacht zum 15. Februar 1860 fünfzehn Zöglinge des Internats Chairman zu einer Ferienkreuzfahrt an Bord des Schoners Sloughi begeben. Ein Unglück geschieht: das Haltetau reißt, der Schoner treibt ab, gerät in einen wütenden Sturm und strandet nach tagelanger Irrfahrt vor einer unbekannten Insel. An baldige Rettung ist nicht zu denken, und die Jungen, allen voran der findige Briant, müssen sich nicht nur gegen äußere
Widrigkeiten, sondern auch gegen ihre eigene Natur zur Wehr setzen. Einer der besten Jules-Verne-Romane, der den Vergleich mit dem echten Robinson aushält.
Jules Verne ist nicht nur mit Genuß und Spaß zu lesen — er ist in dieser neuen Ausgabe auch literarisch wiederzuentdecken. Die von Wolf Wondratschek übersetzten und eingerichteten Texte dieses Bandes zeigen wieder die ganze erzählerische Frische und den klugen Witz Jules Vernes. Die Holzstich-Illustrationen stammen aus der ersten französischen Gesamtausgabe.
Der Autor
Jules Verne wurde 1828 in Nantes (Frankreich) geboren. Er studierte Jura, schrieb Theaterstücke und Operetten und brachte schließlich als 34Jähriger seinen ersten Roman >Fünf Wochen im Ballon< heraus, nachdem fünfzehn Verlage die Annahme des Manuskriptes abgelehnt hatten. Vernes triumphaler Erfolg begann. Er schrieb 98 Bücher, für die er die Stoffe auf Reisen und aus Zeitschriften und Büchern zusammentrug. Nach der Bibel und den Werken Lenins und Tolstois sind Jules Vernes Bücher am häufigsten übersetzt worden. Verne starb 1905 in Amiens.
Titel der französischen Originalausgabe: >Deux Ans de Vacances< Neu übersetzt und eingerichtet von Wolf Wondratschek Mit Holzstich-Illustrationen der ersten französischen Gesamtausgabe im Verlag Hetzel, Paris

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In der Nacht des 9. März 1860 hingen dichte dunkle Wolkenfelder über dem Meer und beschränkten die Sicht auf wenige Meter. Auf den vom Sturm gepeitschten Wogen trieb fast segellos eine 100-t-Jacht. Die Tafelplanke mit der Aufschrift Sloughi war durch irgendeinen Zufall, einen Brecher oder eine Schiffskollision, zum größten Teil zerstört.

Es war 23 Uhr. Das erste Morgengrauen war nicht vor 5 Uhr früh zu erwarten. Nur das Abflauen des Sturmes und die Beruhigung der aufgewühlten See konnten den Schoner vor einem Untergang mit Mann und Maus bewahren.

Auf dem Heck der Sloughi standen 4 Jungen. Sie stemmten sich mit vereinten Kräften gegen das Steuerrad, um bei den seitwärts heranrollenden Wellen ein Kentern zu verhindern. Kurz vor Mitternacht brach eine riesige Wassermenge über die Schanzkleidung herein. Es war ein Wunder, daß das Steuer diesem wuchtigen Schlag überhaupt standhielt. Die Kinder wurden umgeworfen, aber sie konnten sich sofort wieder erheben.

»Ist das Steuer noch heil, Briant?«

»Ja, Gordon!«

»Festhalten, Doniphan, auf keinen Fall jetzt den Mut verlieren!«

»Du bist hoffentlich nicht verletzt worden, Moko?«

»Nein«, antwortete der 12jährige Negerjunge. »Wir müssen aufpassen, daß die Jacht gegen die Wellen segelt. Sonst werden wir versenkt!«

Da wurde die Tür der zum unteren Salon führenden Treppe hastig aufgerissen.

»Briant! Briant! Was ist denn los?« rief ein 9 Jahre altes, total verängstigtes Kind.

»Nichts, Iverson, gar nichts!« rief Briant zurück. »Geh mit Dole wieder ins Bett, aber rasch!«

»Wir haben aber schreckliche Angst«, sagte ein zweites, noch jüngeres Kind. »Und die anderen?«

»Alle haben Angst«, versicherte Dole.

»Geht jetzt hinunter, schließt die Tür und legt euch wieder ins Bett«, befahl Briant.

»Achtung! Ein Brecher!« schrie Moko plötzlich. Ein schwerer Brecher erschütterte das Heck der Jacht.

»Macht, daß ihr verschwindet!« rief Gordon.

»Geht hinunter, ihr Kleinen, es besteht für uns keine Gefahr«, rief Briant ihnen nach.

Da tauchte ein drittes Kind auf. »Braucht ihr uns da oben?«

»Nein, Baxter, bleib mit den anderen bei den Kleinen. 4 sind oben genug«

Baxter verschloß die Tür.

Auf der Sloughi befanden sich ausschließlich Kinder — insgesamt 15. Kein Kapitän, kein Steuermann, nicht ein Matrose war an Bord. Keiner wußte genau, was vorgefallen war. Die Sloughi trieb im Stillen Ozean, dem Meer, das sich über 140 Längengrade von Australien und Neuseeland bis zur südamerikanischen Küste erstreckt.

War die Besatzung der Jacht verunglückt? Hatten malaiische Seeräuber sie entführt und an Bord nur die jungen Passagiere, deren ältester kaum 14 Jahre alt war, ihrem Schicksal überlassen? Von der ursprünglich vorgesehenen Mannschaft, dem Kapitän, dem Obersteuermann und den 6 Matrosen war nur Moko, der Schiffsjunge übrig. Woher kam der Schoner? Wohin sollte die Fahrt gehen? Keines der Kinder hätte darauf eine schlüssige Antwort geben können, wäre die Sloughi jetzt von einem Segler, einem transatlantischen Dampfer oder einem jener unter Segel oder Dampf laufenden Kauffahrteischiffe, die von Europa und Amerika nach allen Weltmeeren auslaufen, aufgebracht worden. Briant und seine Kameraden wachten so gut sie konnten, daß die Sloughi nicht nach der einen oder anderen Seite abgedrängt wurde.

»Was sollen wir tun?« fragte Doniphan.

»Weiß ich auch nicht!«

»Versuchen wir uns zu retten, mehr kann ich nicht sagen«, bemerkte Gordon.

Der Sturm verdoppelte seine Gewalt, der Wind wehte fuderweise, wie es im Jargon der Seeleute heißt, und sehr oft schien es, als müsse der Schoner unweigerlich in Trümmer gehen und sinken. Da der Großmast gebrochen war, konnte kein Fahrsegel gehißt werden. Aber nur so hätte man das Schiff noch einigermaßen sicher steuern können. Der an der Oberbramstenge gebrochene Fockmast stand zwar vorläufig noch, doch mußte man jede Minute befürchten, daß er, wenn die Takelage riß, auf Deck stürzen und vollends auseinanderbrechen würde. Am Bug flatterten die Fetzen des kleinen Klüversegels. Bis jetzt war weder eine Insel noch irgendein Festland im Osten aufgetaucht. Die Kinder spähten vergebens nach einem Licht, einem Orientierungspunkt. Ringsherum war tiefe, undurchdringliche Nacht.

»Moko! Der Fockmast ist kaputt!« rief plötzlich Doniphan.

»Nein! Soweit ich sehen kann, hat sich nur das Segeltuch von den Saumtauen gelöst!«

»Wir müssen es abreißen«, sagte Briant. »Gordon, bleib du mit Doniphan am Rad, und du, Moko, hilfst mir!«

Neben Moko hatte auch Briant einige nautische Kenntnisse. Sie lösten das Hißtau der Raa, die sich über dem Vorderdeck herabsenkte, schnitten die Fetzen des Focksegels mit ihren Messern ab und befestigten dessen untere Ecken durch einige Hilfsbrassen an den Pflöcken der Schanzkleidung; dabei gerieten sie mehrmals in Gefahr, von den Sturzseen weggespült und ertränkt zu werden. Unter dieser bis aufs äußerste verminderten Segelfläche konnte die Sloughi wenigstens einigermaßen Richtung halten. Briant und Moko kehrten wieder zu Gordon und Doniphan ans Steuerrad zurück. Da öffnete sich die Tür zum Salon zum zweiten Male. Ein Kind streckte den Kopf heraus. Es war Jacques, der um 3 Jahre jüngere Bruder Briants. »Was willst du?« fragte Briant. »Komm schnell. Im Salon steht Wasser!«

»Was?!« rief Briant erschreckt. »Wie ist das möglich?«

Mit einem Satz sprang er die Treppe hinunter. Den Salon erleuchtete mehr als notdürftig eine Hängelampe, die mit dem Rollen des Schiffes hin und her schwankte. Etwa 10 Kinder lagen auf den Polsterbänken oder Betten, die kleinsten, nicht älter als 8 Jahre, hatten sich in ihrer Todesangst dicht aneinandergedrängt.

»Keine Angst, es ist alles nur halb so schlimm«, versuchte er sie zu beruhigen.

Mit einer Signallaterne konnte er sich überzeugen, daß tatsächlich Wasser in die Jacht eingedrungen war und von einem Bord zum anderen flutete. Woher kam das Wasser? War in der Seitenwand ein Leck? Vor dem Salon befanden sich das große Zimmer und der Speisesaal, dann die Wohnung und anschließend das Wachhaus der Mannschaft. Briant durchsuchte all diese Räume und sah, daß das Wasser weder ober- noch unterhalb der Schwimmlinie eingedrungen sein konnte. Das Wasser mußte also von Sturzseen herrühren, die über die Treppe nach unten abgeflossen waren. Briant beruhigte seine Gefährten, als er wieder durch den Salon nach oben zum Steuerrad ging.

Es war jetzt 1 Uhr früh, und während schwere Wolkenmassen die Dunkelheit noch lastender machten, wütete der Ozean mit aller Gewalt. Die Jacht flog und stürzte nur so dahin. Dann und wann hörte man den Schrei eines Sturmvogels. Auf eine nahe Küste konnte man deshalb aber nicht schließen, denn diese Vögel findet man oft mehrere 100 sm vom Land entfernt. Eine Stunde später hörte man wieder einen harten, kurzen Riß. Der Rest des Focksegels war zerfetzt, die Stücke flatterten wie riesige Möwen durch die Luft.

»Wir haben kein Segel mehr«, rief Doniphan, »und ein anderes zu setzen ist jetzt unmöglich.«

»Macht nichts«, sagte Briant, »wir kommen auch so schnell genug voran.«

»Vorsicht! Wellen von hinten!« schrie Moko. »Festhalten, oder wir werden weggeschwemmt.«

Er hatte den Satz kaum beendet, als mehrere Tonnen Wasser über Bord hereinstürzten. Briant, Doniphan und Gordon wurden gegen die Treppenkappe geschleudert, wo sie sich zum Glück gerade noch anklammern konnten. Moko jedoch war verschwunden. Ein Teil des Mastwerkes, die beiden Boote und die Jolle, obwohl diese ganz hereingeholt waren, wurden mit fortgerissen. Da jedoch gleichzeitig ein Stück der Schanzkleidung eingedrückt worden war, konnte das Wasser schnell wieder abfließen, was die Jacht vor dem endgültigen Untergang bewahrte.

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