»Du fliegst hier raus, wie der letzte Lump, wenn du auch nur eine Stunde bleibst«, hörte ich auf dem Korridor die Stimme irgendeiner hochgestellten Person.
Botwin hatte keinen hohen Dienstgrad und war daher zwangsläufig ein Zyniker und Faulpelz, er sparte Zeit, indem er in meinem Beisein arbeitete. Alle Auskünfte, die zu meiner Akte eintrafen, türmten sich ebenfalls um seinen Tisch. Unsere Beine berührten sich während des Verhörs, so eng waren die damaligen Kabinette noch aus Dsershinskijs Zeit. Man [konnte] mit eigenen Augen jede Zeile dessen lesen, was ohne Eile und ohne eilen zu wollen vor einem ausgebreitet wurde. Ich habe damals mit Vergnügen über den Tisch hinweg meine eigene Akte aus dem Jahr 1929 angeschaut und wiedergelesen. Die Verhaftung, die Verhöre, den Ordner mit den Aussagen der Zeugen [21] Aussagen der Zeugen – показания свидетелей
zu Beginn und Ende der Untersuchung und schließlich das letzte Blatt in meiner damaligen Akte – die Weigerung, den Erhalt des Urteils zu unterschreiben: drei Jahre Lager und fünf Jahre Verbannung*. [Das Zeichen] von der gleichgültigen Hand des diensthabenden Kommandanten. Und wer war damals diensthabender Kommandant für den MOK, den Männereinzeltrakt? Gefängniskommandant war Adamson, aber diensthabend war wer? Nein, es war nicht im MOK, sondern im Etappentrakt, dass ich in den Hungerstreik trat. Der Grund? – ich will nicht mit der Konterrevolution sitzen und verlange meine Verlegung zu den Oppositionellen*.
»Sie sind hier nicht Untersuchungshäftling, Sie sind hier ein Verurteilter [22] Sie sind hier nicht Untersuchungshäftling, Sie sind hier ein Verurteilter… – Вы у нас не как следственный, вы у нас как приговоренный…
«, sagte der diensthabende Kommandant gleichgültig zu mir – und tatsächlich [zeigte er] einen Auszug der Rechtsgrundlage, auf diesem Papier war auch das kostbare Zeichen in irgendwessen Schrift und mein Zeichen: »Unterschrift verweigert«.
Botwin las die Akte ebenfalls noch einmal und las sie gemächlich, las noch einmal auch ein anderes bedrohliches Zeichen: »Akte ins Archiv«. Diese Formel bedeutete Aufbewahrung auf ewige Zeiten.
Ich wusste all das auch so. Und Botwin interessierte etwas anderes. Ihn interessierte einfach, wie dieses Verfahren am geschicktesten ausgestalten, in dem sich für die damalige Zeit grenzenlose Möglichkeiten auftaten. Botwin kam immer von irgendeinem Bericht, einen ganzen Stapel Dokumente in der Hand. Neben Zynismus und Faulheit zeigten sich auch die gebührende Dienstbeflissenheit und der Wunsch, sich nichts entgehen zu lassen, nichts aus der Hand zu geben auf dem ruhmreichen Weg. Aus der Technik das Maximum dessen herauszupressen [23] herauspressen – выжимать
, was sie bieten kann.
»Er streckt die Hände nach der Partei aus«, schrie Botwin.
»Wer?«
»Sie.«
Jemand von den Oberen hatte in den Dokumenten Punkte und Gedankenstriche gesetzt … Plötzlich änderte er das Konzept wie auch den Ablauf des Verhörs. Nach dem Erhalt meiner alten Akte waren alle Zeugen aus meinem Verfahren erneut verhört worden – schon mit Blick nicht auf die Verbannung [24] die Verbannung – ссылка
, sondern auf ein Tribunal. Zeugen zu meinem Verfahren gab es sehr wenige, jenes Minimum, das heute besser ist als das Maximum. Alle Arbeitskollegen – Gusjatinskij, Schumskij – wurden komplett neu verhört.
Gusjatinskij brachte eine Masse neuer Fakten bei: fuhr nach Kiew, wo er Jefimow lobte, den Direktor des Kiewer Industrie-Instituts, und ehrliche Leninisten beschimpfte. Das alles erschien ihm verdächtig, und er teilte offiziell mit, wer mich der Redaktion empfohlen hatte.
In nichts hatten sich Schumskijs Aussagen verändert – gegenüber seinem ersten Verhör. Schumskij erwies sich keineswegs als Feigling.
Am bedeutendsten waren die Veränderungen in den Aussagen meiner Frau, doch ihren Kern kenne ich nur in der Wiedergabe Botwins: »Auch Ihre Frau sagt über Sie aus, Sie waren ein aktiver Oppositioneller, haben sich nur versteckt und maskiert, na ja.« Aber solche Aussagen fanden sich nicht.
Ich passte für das Kürzel [25] Ich passte für das Kürzel – Я угодил под литерку (т.е. обвинялся в политическом преступлении, которое обозначалось аабревиатурой, например, АСА – антисоветская агитация)
.
Vierzehn Jahre später, noch vor der Rehabilitierung, fragte ich [meine Frau]*:
»Was haben sie dir [hineingeschrieben] in deine eigenen Aussagen? Was konntest du in einem Jahr wie 1937 Überflüssiges sagen?«
»Meine Aussage war so: ich kann natürlich nicht sagen, was du in meiner Abwesenheit getan hast, aber in meinem Beisein warst du mit keinerlei trotzkistischen Tätigkeit befasst [26] mit irgendeiner Tätigkeit befasst sein – заниматься чем-либо
.«
»Na, wunderbar.«
»Du wirst dich einmal im Monat mit Pasternak treffen, und hierher wirst du, na, sagen wir, einmal pro Woche kommen.«
»Pasternak«, sagte ich, »braucht mich mehr als ich ihn. Pasternak hat mir gegeben, was er konnte, in seinen frühen Gedichten, den Gedichten ›Meine Schwester – das Leben‹: Pasternak schuldet mir auch nichts mehr.«
»Gib mir dein Wort, dass du Lenotschka in Frieden lässt und ihre Ideale nicht zerstörst. Sie ist von mir persönlich, ich betone dieses Wort, in offiziellen Traditionen erzogen, und ich will für sie keinen anderen Weg. Mein Auf-dich-Warten über 14 Jahre gibt mir das Recht auf diese Bitte.«
»Na und ob, diese Verpflichtung gehe ich ein und erfülle sie. Noch etwas?«
»Das ist noch nicht das Wichtigste, das Allerwichtigste – du musst alles vergessen.«
»Was alles?«
»… Na, zurückkehren zum normalen Leben …«
Der Dampfer »Kulu« beendete seine fünfte Überfahrt in der Nagajew-Bucht am 14. August 1937. Fünfundvierzig Tage hatte man die »Volksfeinde« – einen ganzen Transportzug von Moskauern – hergefahren. Die warme Stille der Sommernächte, die dumme Freude derer, die man in heizbaren Güterwaggons [27] der Güterwaggon – товарный (грузовой) вагон
zu sechsunddreißig Mann transportierte. Die Menschen waren, während sie sich die blasse Gefängnishaut vom heißen Wind aus allen Waggonritzen verbrannten, auf kindliche Art glücklich. Die Untersuchung ist abgeschlossen. Jetzt hat sich ihre Situation geklärt, jetzt fahren sie an die goldene Kolyma, in die fernen Lager, wo das Dasein, wie man hört, märchenhaft ist. Zwei Männer im Waggon lächelten nicht – ich (ich wusste, was das ferne Lager ist) und ein schlesischer Kommunist, der Deutsche Weber, ein Häftling von der Kolyma, den man für irgendwelche Aussagen nach Moskau gebracht hatte. Als einmal wieder ein Ausbruch des Gelächters [28] ein Ausbruch des Gelächters – взрыв смеха
, des nervösen Häftlingsgelächters, verhallt war, gab mir Weber einen Wink mit seinem schwarzen Bart und sagte: »Das sind Kinder. Sie wissen nicht, dass man sie zur physischen Vernichtung bringt.«
Ich erinnere mich noch an Omsk mit seinem vortrefflichen Badehaus, einer militärischen Entlausungsanstalt [29] die Entlausungsanstalt – санпропускник
, bei der wir, gewaschen und nach der Desinfektion in feuchter, nach Lysol riechender Kleidung, auf irgendeinem Hof lagen und in die warme, von kleinen grauen Wölkchen umgebene Herbstsonne schauten. Das Laub der Bäume war tiefrot. Zu uns kam ein Oberleutnant des NKWD, fett und rasiert, beide Daumen unter den Ledergürtel geklemmt, der den riesigen Bauch mit Mühe zusammenhielt. Das war der »Repräsentant« des NKWD, der den Transport begleitete. Klagen? Nein, wir klagten nicht, und auch nicht, um Klagen zu hören, war der Leutnant zur Etappe gekommen. Seine Visage, von Fett aufgeschwemmt [30] von Fett aufgeschwemmt – заплывшее жиром
, und die blassen mageren Figuren und die eingefallenen Augen der Häftlinge haben sich mir gut eingeprägt.
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