„Nicht wirklich“, sagte Chloe.
„Möchtest du ein Bier?“
„Wie viel Uhr ist es?“
„Mittag? Oder zumindest fast…“
„Nur eins“, sagte Danielle und musterte ihre Schwester dabei misstrauisch.
Chloe war sich sehr bewusst darüber, dass sie quasi die Rollen getauscht hatten. Als sie den Kronkorken einer Flasche öffnete und diese an Danielle weiterreichte, sah sie die Besorgnis im Gesicht ihrer Schwester. Was in Ordnung war… es zeigte, dass Danielle erwachsen geworden war. Es zeigte, dass sie angesichts dessen, was sie gemeinsam entdeckt hatten, auf eigenen Beinen stehen konnte, ohne dass ihre Schwester sie unterstützte, wie sie es normalerweise getan hatte.
„Ich weiß, was du denkst“, sagte Chloe.
„Nein, das tust du nicht. Ich hasse es, zu sagen, dass ich die Chloe, die vor Mittag trinkt, irgendwie mag. Ich mag diese launische Fick-dich-Welt Chloe. Aber ich wäre eine schlechte Schwester, wenn ich dir nicht sagen würde, dass ich mir Sorgen um dich mache. Du hast nicht unbedingt den Charakter, um das dunkle und grübelnde Goth-Ding abzuziehen.“
„Bist du deswegen hier?“, fragte Chloe. „Um mir zu sagen, dass du dir Sorgen um mich machst?“
„Teilweise. Aber es gibt noch etwas anderes. Und ich möchte, dass du mir für einen Moment zuhörst, okay?“
„Sicher“, sagte Chloe, als sie sich mit ihren Bierflaschen auf dem Sofa niederließen. Sie entdeckte das Tagebuch ihrer Mutter auf dem Couchtisch und ihre Gedanken kehrten kurz zu der üblen Idee zurück, ihren Vater umzubringen. Und es war dann, als Danielle ihr gegenüber saß, dass sie begriff, dass sie es niemals tun könnte. Sie konnte darüber fantasieren und Pläne schmieden, so viel sie wollte, aber sie würde es nie tun. Sie war einfach nicht diese Art von Person.
„Also, ich erinnere mich daran, vor einer Weile diese Sendung gesehen zu haben… ein wenig wie eine dieser Ungelöste Mysteriöse Fälle-Dinger“, sagte Danielle.
„Ich hoffe, du willst auf etwas hinaus“, unterbrach Chloe.
„Das tue ich. Jedenfalls… ging es um diese Frau, die ihrem Bruder das Leben gerettet hat. Schau… sie waren eineiige Zwillinge. Fünf Minuten auseinander geboren oder so ähnlich. Eines Abends kocht sie Abendessen für ihre Familie und sie spürt dieses scharfe Stechen in ihrem Kopf… so als spräche jemand mit ihr. Sie hatte das überwältigende Gefühl, dass ihr Bruder in Schwierigkeiten steckt. Es war so stark, dass sie aufhörte zu tun, was sie gerade tat und ihn anrief. Als er nicht ans Telefon ging, rief sie die Freundin ihres Bruders an. Die Freundin ging zum Haus des Bruders und stellte fest, dass jemand in sein Haus eingebrochen war und ihn angeschossen hatte. Er blutete stark, als die Freundin ihn fand, aber sie rief eins-eins-zwei an und rettete ihm letztendlich das Leben. Alles beruhte auf diesem seltsamen Gefühl, das seine Zwillingsschwester empfand.“
„Okay…“
Danielle verdrehte ihre Augen. Chloe merkte, dass sie sehr intensiv über ihre nächsten Worte nachdachte. „Ich habe so etwas vor etwa vierzig Minuten gespürt“, sagte sie. „Nicht einmal annähernd so stark, wie es diese Fernsehsendung dargestellt hat, aber es war da. Es war stark genug. Und es war… nun, es war komisch.“
„Niemand ist eingebrochen“, sagte Chloe. „Ich wurde nicht angeschossen.“
„Das kann ich sehen. Aber… ich weiß nicht. Ich hatte dieses komische Zwillingsgefühl. Ich hatte das Gefühl, dass ich hier sein müsse. Entschuldige, wenn das dumm klingt. Aber… gibt es irgendetwas, das ich, dadurch, dass ich aufgetaucht bin, verhindert habe?“
Chloe schüttelte ihren Kopf. Aber sie dachte: Du hast mich nur davon abgehalten, den Mord an unserem Vater zu planen. Sie gab ein sanftes, kleines Lachen von sich und nahm einen Schluck von ihrem Bier.
„Es geht dir nicht gut“, sagte Danielle. Sie nickte zur Bierflasche hinüber. „Wie viele davon werde ich leer im Mülleimer finden?“
„Zwei. Und es tut mir leid… aber wer bist du, dir Sorgen um die Trinkgewohnheiten eines anderen zu machen? Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“
„Oh, mir ist das Trinken egal. Betäube dich, wie du es für richtig hältst. Aber ich weiß auch, dass es dir nicht ähnlich sieht, dich zu betäuben. Das war noch nie so. Du bist die Vernünftige… die Kluge. Ich bin hier, weil du in meine alten Strategien, Dinge zu bewältigen, eingetaucht bist. Das ist es, was mich besorgt.“
„Es geht mir gut, Danielle.“
Danielle verschränkte ihre Arme und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Wenn es sich in diesem Gespräch um gut gemeintes Aufziehen gehandelt hatte, dann spürte Chloe, wie es mit dieser einfachen Geste verschwand.
Danielles Blick fühlte sich eisig an.
„Du willst mir also sagen, dass nach dem letzten Jahr, in dem du mir die Großartigkeit unseres Vaters verkündet hast… ich es einfach gut sein lassen soll? Du und ich sind mehrere Male wegen ihm angeeckt und du hast immer zu ihm gestanden. So wie ich das sehe, verdiene ich etwas Ehrlichkeit, Chloe. Ich bin nicht doof. Diese Überraschung mit Dad hat dich durcheinandergebracht.“
„Natürlich hat es das.“
„Sag mir also, was du denkst. Sag mir, was wir jetzt tun werden. Wenn ich ganz ehrlich bin, verstehe ich nicht, warum du ihn noch nicht ausgeliefert hast. Ist das Tagebuch nicht ausreichend, um ihn zu verurteilen?“
„Glaubst du nicht, dass ich daran gedacht habe?“, fragte Chloe und wurde langsam wütend. „Und nein… das Tagebuch ist nicht ausreichend. Es könnte genug sein, um den Fall erneut zu eröffnen, aber das wäre es auch schon. Es gibt keine stichhaltigen Beweise… und die Tatsache, dass es bereits ein Gerichtsverfahren gab und unser Vater ins Gefängnis gesteckt und dann freigelassen wurde, macht es noch schwieriger. Werfen wir noch Ruthanne Carwiles jüngstes Urteil dazu und es wird zu einem einzigen, großen Durcheinander.“
„Du sagst also, er wird wahrscheinlich damit durchkommen?“
Chloe gab ihr keine Antwort. Sie trank den Rest ihres Bieres und ging in die Küche. Sie öffnete die Kühlschranktür, um ein Neues zu holen, hielt dann jedoch inne. Langsam schloss sie die Tür wieder und lehnte sich gegen die Küchenzeile.
„Ich bin mir darüber bewusst, dass dies hauptsächlich mein Fehler ist“, sagte Chloe. Es war schwer, dies zuzugeben. Die Worte schmeckten wie Säure in ihrem Mund, als sie sie aussprach.
„Ich bin nicht hier, um dir die Schuld zu geben, Chloe.“
„Ich weiß. Aber es ist, was du denkst. Und ich werfe dir deshalb nichts vor. Jetzt, wo ich gesehen habe, was in dem Tagebuch steht und… ich weiß nicht… so etwas wie ein Gespür für ihn habe… denke ich es auch. Wenn ich auf dich gehört hätte, bevor all das hier begonnen hat, dann wäre es jetzt anders. Vor Ruthanne, vor meinem Job bei der Behörde…“
„Tu das nicht. Lass uns einfach nach vorne schauen. Lass uns wir herausfinden, was wir tun können.“
„Es gibt nichts!“
Chloe überraschte sich selbst, als sie ihre Schwester mit den Worten anschrie. Aber als sie einmal raus waren, fand sie es schwer, sie wieder zurückzunehmen.
„Chloe, ich …“
„Ich habe es vermasselt. Ich habe dich und Mom und mich selbst im Stich gelassen. So ist das nun. Ich werde jetzt damit leben müssen und einfach…“
„Aber wir können gemeinsam eine Lösung finden, oder? Schau… ich mag diesen Rollentausch und alles, aber ich kann es nicht ertragen, wenn du dich so fertigmachst.“
„Nicht jetzt. Ich kann damit momentan nicht umgehen. Ich muss ein paar Dinge herausfinden.“
„Dann lass mich helfen.“
Chloe fühlte sich erdrückt. Sie spürte außerdem, wie sich ein weiterer Ausbruch anbahnte, aber sie ballte die Fäuste und war in der Lage, sich zurückzuhalten.
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