Die Schlafzimmertür war geöffnet, also trat sie ohne zu klopfen ein. Sie wusste oft nicht, ob Mrs. Fairchild zu Hause war oder nicht, aber sie hatte gelernt zu klopfen, wann immer eine Tür im Haus der Fairchilds geschlossen war. Sie rollte den Staubsauger hinein, hielt jedoch nach ihren ersten drei Schritten in das Zimmer an.
Mrs. Fairchild lag auf dem Bett und schlief. Dies fühlte sich seltsam an, da sie sich ziemlich sicher war, dass Mrs. Fairchild an den meisten Tagen früh aufstand und laufen ging. Sie hätte das Zimmer fast wieder verlassen, da sie sie nicht wecken wollte, aber dann fielen ihr zwei merkwürdige Dinge auf.
Erstens trug Mrs. Fairchild ihre Laufkleidung. Zweitens lag sie auf den Laken und das Bett war frisch bezogen.
Alarmglocken begannen in Rosas Kopf zu läuten und anstatt sich aus dem Raum zurückzuziehen, so wie sie es ursprünglich beabsichtigt hatte, fühlte sie sich so, als würde sie von einer unsichtbaren Hand geleitet werden.
„Mrs. Fairchild?“, fragte sie.
Es gab keine Antwort. Mrs. Fairchild bewegte sich nicht einmal.
Ruf die Polizei, dachte Rosa. Ruf 110 an. Das hier ist nicht gut… sie schläft nicht nur und du weißt es.
Aber sie musste es genau wissen. Sie ging zwei weitere Schritte vorwärts, bis Mrs. Fairchilds Gesicht zum Vorschein kam.
Ihre Augen waren weit geöffnet und schauten zum Fenster – ohne zu blinzeln. Ihr Mund war teilweise geöffnet. Eine noch relativ frische Blutlache befleckte das Laken knapp über ihrem Kopf. Eine groteske Schnittwunde befand sich deutlich sichtbar an ihrem Hals.
Rosa spürte ein leichtes Jammern in ihrer Kehle aufsteigen. Ihre Knie gaben ein wenig nach, sie schaffte es jedoch, ein paar Schritte zurückzutreten. Als sie mit dem Staubsauger kollidierte, stieß sie einen Schrei aus.
Es fiel ihr sehr schwer, ihren Blick von Mrs. Fairchild abzuwenden, aber als sie es tat, rannte sie schnell aus dem Zimmer. Sie eilte zur Küchenzeile, auf der sie ihr Handy abgelegt hatte, und rief 110 an. Als die Notrufzentrale antwortete, war Rosa so entsetzt über das, was sie gesehen hatte, dass sie nicht einmal mehr daran dachte, dass sich das Spülbecken im Raum neben der Waschküche immer weiter füllte und kurz davor war überzulaufen.
Chloe war oft darüber gewarnt worden, ihr Privatleben und ihrer Karriere getrennt zu halten. Als Bundesagentin neigten die Dinge dazu, ins Wanken zu geraten, wenn diese beiden Welten aufeinandertrafen. Aber um ehrlich zu sein, hatte sie, dank der mentalen Katz-und-Maus-Spiele ihres Vaters, mit dem stetigen Zusammentreffen dieser beiden Welten gelebt, seit sie die Akademie abgeschlossen hatte.
Sie wusste, dass sie viel zu viel Zeit damit verbracht hatte, darüber zu spekulieren, was ihr Vater ihrer Mutter vor fast achtzehn Jahren angetan hatte oder nicht. Dank Danielles Entdeckung des Tagebuches ihrer Mutter hatte Chloe die letzten paar Wochen in einer Wolke der Verwirrung verbracht. Sie war sich nun ziemlich sicher, dass ihr Vater ihre Mutter vor all diesen Jahren tatsächlich ermordet hatte. Sie hatte ihm bis zu diesem Zeitpunkt immer einen Vertrauensvorschuss gegeben – sie hatte versucht, den Mord an ihrer Mutter einem Sündenbock namens Ruthanne Carwile zuzuschreiben.
Aber nun hatte sie es in der Handschrift ihrer Mutter geschrieben gesehen. Jetzt hatte sie mehr als ausreichende Beweise, um nicht nur zu glauben, dass ihr Vater ein Mörder war – sondern auch, dass er ihre Mutter getötet hatte.
Es hatte sie ziemlich schwer getroffen. Wobei Chloe ihr Bestes versucht hatte, damit es ihre Arbeit nicht beeinflusste, hatte es doch fast jeden freien Augenblick, in Anspruch genommen. Sie hatte die ersten zwei Wochen nach der Erkenntnis damit verbracht, allen Anrufen auszuweichen – Danielles, denen ihrer Partnerin, Agentin Rhodes, und denen ihres Vaters.
Ich muss es nur öffentlich machen, dachte sie immer und immer wieder zu sich selbst. Es veröffentlichen, dem Vorstand vortragen und ihn fertigmachen. Ich schließe dieses schmutzige Kapitel meines Lebens ab und stecke diesen Mistkerl hinter Gitter.
Dies war jedoch riskant. Es könnte ihre eigene Karriere beeinflussen. Und mehr als das, denn es gab immer noch das kleine trotzige Mädchen in ihr, eine jüngere Version von ihr, die darauf bestand, dass es vielleicht etwas gab, das sie übersah… dass ihr Vater auf gar keinen Fall ein Mörder war.
Es war ein innerer Kampf, der dafür gesorgt hatte, dass sie einige Male mit einem Kater zur Arbeit ging. Es war erst zwanzig Tage her, seit sie die Entdeckung in dem Tagebuch gemacht hatte. Und sogar auf der Arbeit, obwohl sie professionell blieb und ihre privaten Dämonen ihren Job nicht behindern ließ, tauchten Einträge aus dem Tagebuch in ihren Gedanken auf.
Heute Nacht hat er mich gewürgt… und mir ins Gesicht geschlagen. Bevor ich wusste, was passiert war, drückte er mich gegen die Wand und würgte mich. Er sagte, wenn ich ihn jemals wieder missachte, würde er mich töten. Er sagte, dass er etwas Besseres auf sich warten hat, eine bessere Frau und ein besseres Leben…
Das Tagebuch lag auf ihrem Couchtisch. Sie ließ es dort liegen, damit sie immer daran erinnert wurde… und sie konnte sich die Erleichterung nicht leisten, es außerhalb ihrer Sichtweite zu haben. Sie behielt es dort als Erinnerung daran, dass sie eine Närrin gewesen war – und dass ihr Vater ihr schon sehr lange etwas vorgemacht hatte.
Zwanzig Tage waren vergangen, fast drei Wochen, seit sie und Danielle endlich zu dem Schluss gekommen waren, dass ihr Vater ihre Mutter getötet hatte, als Chloe mit dem Gedanken spielte, einfach zu seiner Wohnung zu fahren und ihn umzubringen. Es war ein Samstag. Sie hatte um elf Uhr morgens angefangen zu trinken, wobei sie aus dem Fenster ihrer Wohnung auf den DC Verkehr, der unter ihr vorbeizog, starrte. Sie wusste genügend darüber, wie das System funktionierte, um es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen. Oder sie wusste, wie sie sonst ihre Spuren gut verstecken konnte. Sie konnte sicherstellen, dass er starb, ohne dass irgendetwas auf sie zurückzuführen war.
Sie hatte sich alles genau überlegt. Sie hatte den Beginn eines Plans in ihrem Kopf, der größtenteils zuverlässig schien.
Aber das ist doch Wahnsinn, oder? fragte sie sich.
Aber dann dachte sie daran, wie er sie gründlich zum Narren gehalten hatte. Sie erinnerte sich daran, wie treu sie ihm gegenüber gewesen war, als Danielle versucht hatte, sie zu warnen, dass ihr Vater nicht der Mann war, für den sie ihn hielt. Und als sie all dies in Betracht zog, nein… dann schien die Idee, ihn zu töten doch nicht so drastisch.
Sie schwelgte in einem Tagtraum darüber, eine Waffe auf ihren Vater zu richten und den Abzug zu drücken und begann, das dritte Bier an diesem Tag zu trinken, als ein leises Klopfen an ihrer Tür ertönte. Sie zuckte zusammen; ihr Vater war in den letzten zwanzig Tagen viermal vorbeigekommen, aber sie war auf der anderen Seite immer stumm geblieben. Dieses Klopfen war allerdings anders – der herzschlagartige Takt vom Intro zu „Closer“ von Nine Inch Nails, einem der Lieblingslieder von Danielle. Es war das Klopfzeichen, auf das sie sich geeinigt hatten, damit Chloe wusste, dass sich ihre Schwester auf der anderen Seite der Tür befand.
Mit einem müden Lächeln öffnete Chloe die Tür. Danielle wartete inmitten des Klopfzeichen-Taktes auf der anderen Seite. Sie senkte ihre Hände und warf ihrer Schwester ein Lächeln zu. Es fühlte sich merkwürdig an; Danielle war normalerweise die Grimmige, die Chloe versuchte, aufzumuntern. Es war für den größten Teil ihres Lebens so gewesen, besonders seit Danielle herausgefunden hatte, was für absolute Arschlöcher Jungs sein konnten.
„Schläfst du nicht gut?“, fragte Danielle, als sie eintrat und die Tür hinter sich schloss.
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