„Können Sie uns die Namen und Kontaktinformationen geben?“, fragte Ellington.
„Sicher“, sagte er und zog sein Handy heraus, um die Informationen zusammenzusuchen.
„Ist es normal, unter der Woche so viel Besuch zu haben?“, fragte Mackenzie.
„Nein. Wir haben uns quasi für einen letzten gemeinsamen Abend getroffen, bevor die Ferien zu Ende sind. Nächste Woche geht der Unterricht wieder los. Und mit der Arbeit und anstehenden Familienbesuchen war es der einzige Abend, den wir alle freischaufeln konnten.“
„Hatte Christine außerhalb Ihrer Gruppe noch andere Freunde?“
„Nicht viele, sie war ein sehr introvertierter Mensch. Da waren nur ich und zwei meiner Freunde, mit denen sie manchmal abhing, aber das war‘s. Sie stand ihrer Mutter sehr nahe. Ich denke, ihre Mom hatte vor, noch vor Ende des nächsten Semesters herzukommen und hier zu leben.“
„Haben Sie nach dem Vorfall mit ihrer Mutter gesprochen?“
„Ja“, sagte er. „Es war seltsam, weil ich zuvor noch nie mit der Frau geredet habe. Ich habe ihr bei den …“
Er hielt inne und zum ersten Mal bildeten sich Tränen in seinen müden Augen.
„… bei den Beerdigungsvorbereitungen geholfen. Ich glaube, sie soll hier eingeäschert werden. Sie ist gestern Abend hergeflogen und wohnt in einem Hotel in der Umgebung.“
„Ist sie alleine?“, fragte Mackenzie.
„Ich weiß es nicht.“ Er krümmte sich und sah zu Boden. Er war sowohl erschöpft als auch traurig, eine Mischung, die ihn schließlich umhauen würde.
„Wir werden Sie fürs erste alleine lassen“, sagte Mackenzie. „Haben Sie die Hotelinformationen von Mrs. Lynch?“
„Ja“, sagte er und zog langsam wieder sein Handy raus. „Moment.“
Während er nach dem Namen des Hotels suchte, sah Mackenzie Ellington an. Wie immer waren seine Antennen ausgefahren und er sah sich intensiv im Raum um, damit ihm nichts entging. Sie bemerkte auch, dass er mit seinem Ehering spielte, während er sich umsah. Langsam drehte er ihn an seinem Finger herum.
Dann blickte sie wieder zu Clark Manners. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihn erneut befragen würde – und das vermutlich bald. Die Tatsache, dass er wie besessen seine Wohnung putzte, nachdem seine Freundin umgebracht worden war, machte aus psychologischer Sicht Sinn. Aber es könnte auch als Versuch gewertet werden, Beweise verschwinden zu lassen.
Doch sie hatte schon zuvor Menschen gesehen, die die Trauer zerbrochen hatte und tief in sich fühlte sie, dass Clark vermutlich unschuldig war. Niemand konnte diese Art von Trauer spielen, ganz zu schweigen von seiner Unfähigkeit zu schlafen. Doch früher oder später würden sie auf jeden Fall mit seinen Freunden sprechen müssen.
Als Clark die Hoteldetails gefunden hatte, gab er Mackenzie sein Handy, damit sie diese notieren konnte. Sie schrieb auch die Namen und Nummern der Freunde ab, die sich am Abend von Christines Tod in Clarks Wohnung aufgehalten hatten. Während sie schrieb, bemerkte sie, dass auch sie mit ihrem Ehering gespielt hatte. Ellington sah es ebenfalls und schenkte ihr, trotz der Situation, ein kurzes Lächeln. Als sie das Handy entgegennahm, hörte sie auf, an dem Ring zu drehen.
* * *
Margaret Lynch war das genaue Gegenteil von Clark Manners. Sie war kühl und gesammelt und begrüßte Mackenzie und Ellington mit einem Lächeln, als sie sich in der Lobby des Radisson-Hotels trafen, wo sie wohnte. Sie geleitete sie zu einer Couch im hinteren Teil der Lobby, wo sie zum ersten Mal Schwäche zeigte.
„Wenn ich beginne, zu weinen, möchte ich das lieber nicht vor allen anderen tun“, bemerkte sie und verschwand in der Couch. Sie schien sich ziemlich sicher zu sein, dass das passieren würde.
„Ich würde gerne mit der Frage beginnen, wie gut Sie Clark Manners kennen“, sagte Mackenzie.
„Nun, ich habe vor zwei Tagen zum ersten Mal mit ihm gesprochen. Nach dem Vorfall. Aber Christine hatte ihn einige Male am Telefon erwähnt. Ich denke, sie war ziemlich angetan von ihm.“
„Gibt es irgendeinen Verdacht von Ihrer Seite?“
„Nein. Ich kenne den Jungen natürlich nicht, aber basierend auf Christines Erzählungen kann ich mir nicht vorstellen, dass er derjenige war, der es getan hat.“
Mackenzie bemerkte, dass Mrs. Lynch alles ihr Mögliche tat, um Worte wie getötet oder ermordet zu vermeiden. Sie nahm an, dass die Frau in der Lage war, bei Verstand zu bleiben, weil sie es schaffte, sich davon zu distanzieren. Die Tatsache, dass sie beide bereits seit einiger Zeit an verschiedenen Enden des Landes gelebt hatten, machte es vermutlich einfacher.
„Was können Sie mir über Christines Leben hier in Baltimore erzählen?“, fragte Mackenzie.
„Nun, sie begann ihr Studium in San Francisco. Sie wollte Anwältin werden, aber die Schule und der Lernstoff … es passte einfach nicht. Wir redeten lange über ihren Wunsch, sich bei der Queen Nash Universität zu bewerben. Sehr lange. Ihr Vater verstarb, als sie elf Jahre alt war und seitdem waren es nur Christine und ich. Keine Onkel, keine Tanten. Wir waren schon immer eine kleine Familie. Sie hat eine noch lebende Großmutter, doch die leidet an Demenz und lebt in einem Heim in der Nähe von Sacramento. Ich weiß nicht, ob Sie es bereits wissen, aber ich werde sie hier in Baltimore einäschern lassen. Es macht keinen Sinn, sie zurück nach Kalifornien zu bringen, um dort genau dasselbe zu tun. Wir haben dort keine wirklichen Verbindungen. Und ich weiß, dass ihr es hier gefallen hat, also …“
Diese arme Frau wird ganz alleine sein, dachte Mackenzie. Wenn sie Menschen befragte, war sie sich solchen Dingen immer bewusst, aber dieser Gedanke überrollte sie wie ein riesiger Fels.
„Wie auch immer, sie wurde angenommen und wusste bereits nach dem ersten Semester, wie gut es ihr hier gefiel. Sie war immer sehr entschuldigend, machte sich Sorgen um mich, ihre einsame, alte Mutter. Sie blieb in Kontakt und rief zwei Mal die Woche an. Sie redete über ihre Kurse und, wie gesagt, auch über Clark.“
„Was sagte sie über ihn?“, fragte Ellington.
„Dass er süß und sehr lustig war. Sie erwähnte auch von Zeit zu Zeit, dass er etwas langweilig war und dazu neigte, öfters mal zu viel zu trinken.“
„Aber nichts Negatives?“
„Nicht, dass ich mich erinnern kann.“
„Entschuldigen Sie meine Frage“, sagte Mackenzie. „Aber wussten Sie, ob die beide exklusiv waren? Bestand die Möglichkeit, dass Christine sich noch mit jemand anderem traf?“
Mrs. Lynch dachte einen Moment nach. Sie schien an der Frage keinen Anstoß zu nehmen, sondern blieb genauso ruhig, wie sie es bei ihrer Ankunft gewesen war. Mackenzie fragte sich, an welchem Punkt die arme Frau schließlich umknicken würde.
„Sie hat nie erwähnt, dass es in Liebesfragen einen Konkurrenten für Clark hätte geben können“, sagte Mrs. Lynch. „Und ich denke, ich weiß, warum Sie fragen. Mir wurde gesagt, dass die Szene aussah, als ob … nun ja, sie war oben ohne und so. Ich hatte einfach angenommen …“
Sie hielt inne und brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Die folgenden Worte schienen etwas in ihr aufzuwirbeln, doch sie schaffte es, die Gefühle zu verbannen, bevor diese die Kontrolle übernahmen. Als sie weiterredete, war sie noch immer kalt wie Stein.
„Ich hatte einfach angenommen, dass es sich um einen misslungenen Vergewaltigungsversuch handelte. Dass der Mann aus irgendeinem Grund austickte und nicht in der Lage war, es zu Ende zu bringen. Aber ich nehme an, es besteht die Möglichkeit, dass es einen anderen Mann in ihrem Leben gegeben hat. Wenn es so war, dann wusste ich einfach nichts davon.“
Mackenzie nickte. Die Theorie der versuchten Vergewaltigung war auch ihr durch den Kopf gegangen, doch das Shirt auf dem Boden und ihr Kopf, der willkürlich darauf lag, schienen in diesem Zusammenhang keinen Sinn zu machen.
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