Das Blut im Sand verriet ihr, dass es weniger als vier Stunden her war. Die Berechnungen waren einfach. Zoe ging von der durchschnittlichen Ermüdungsrate aus, zog die Hitze an diesem Tag in ihre Berechnungen ein und blinzelte in die Ferne, stellte sich die genaue Entfernung vor, in der sie ihn finden würden. Ihr Herz schlug schneller, als sie vor ihrem geistigen Auge sah, wie sie ihn schnappen würden. Sie würden ihn leicht einholen. Schon ermüdet, ohne Wasser und ohne die geringste Ahnung, dass sie seine Verbrechen bereits entdeckt hatten. Das hier würde schnell vorbei sein.
Ihre Aufmerksamkeit wechselte zu den Büschen und kleinen Bäumen, die etwas entfernt wuchsen, unregelmäßig verteilt und somit einem Menschen nicht genügend Schutz bietend. Sie sah die Entfernung zwischen ihnen, Zahlen erschienen vor ihren Augen, teilten ihr die Geschichte hinter dem Muster mit. Weit voneinander verteilt, wenige natürliche Ressourcen. In Grüppchen, die Wurzeln auf der Suche nach einer unterirdischen Wasserquelle und nährstoffreichem Boden. Dem unerfahrenen Auge mochten sie zufällig erscheinen, aber der Standort jedes einzelnen Gewächses beruhte auf Planung. Der Planung der Natur.
„Was gefunden?“ fragte Shelley. Sie sah gespannt aus, als ob sie darauf wartete, dass ihre erfahrenere Partnerin alles auflöste.
Zoe sah auf, zuckte schulbewusst zusammen. Sie stand auf und schüttelte rasch den Kopf. „Ich nehme an, er ist da lang gelaufen“, sagte sie und zeigte in die offensichtliche Richtung seiner sich entfernenden Fußabdrücke. Ziemlich weit entfernt sah man eine Felsnase, ein guter Ort für eine Rast. Die Formation verriet ihr etwas über Windmuster, über tausende von Jahren der Aushöhlung und Formung. „Vielleicht wird er dort im Schatten eine Pause machen. Es ist ein heißer Tag.“
Ein Geheimnis war ein Geheimnis. Auf gar keinen Fall konnte sie zugeben, was sie wusste. Auf keinen Fall konnte sie laut aussprechen, dass sie ein Freak war, die Welt auf eine Weise begriff, wie es niemand anders tat. Oder den Rest zugeben – dass sie auch nicht verstand, wie die anderen die Welt sahen. Aber sie konnte ihnen wenigstens das geben. Die Art Hinweis, die auch eine normale Person erkennen würde.
Der Chief räusperte sich und unterbrach. „Wir haben diese Richtung schon erkundet und nichts gefunden. Die Hunde haben die Spur verloren. Dahinten ist der Boden steiniger und man sieht keine Fußabdrücke mehr. Wir nehmen an, dass er einfach weiter geradeaus gerannt ist. Oder sogar von einem Auto mitgenommen wurde.“
Zoes Augen verengten sich. Sie wusste, was sie wusste. Dieser Mann rannte voller Verzweiflung, seine Schritte lang, der Körper nah am Boden, als er sich vorbeugte, um schneller zu sein. Er hatte kein Versteck und er war nicht so weit weg, dass sie ihn nicht finden können würden.
„Tun Sie uns den Gefallen“, schlug Zoe vor. Sie tippte auf das FBI-Siegel auf ihrer Marke, die sie noch in der Hand hielt. Das war ein Riesenvorteil, wenn man ein Special Agent war: man musste sich nicht immer erklären. Man entsprach sogar dem Vorurteil, wenn man es nicht tat.
Shelley hörte auf, Zoes Gesichtsausdruck zu mustern und wandte sich um, um wieder mit dem Chief zu sprechen, ihre Haltung entschlossen. „Schicken Sie uns den Hubschrauber. Haben Sie die Hunde bereit?“
„Sicher.“ Der Chief nickte, auch wenn er nicht besonders erfreut aussah. „Sie sind der Boss.“
Shelley dankte ihm. „Fahren wir los“, schlug sie Zoe vor. „Ich habe Radioverbindung zum Piloten. Er wird uns informieren, wenn sie was entdecken.“
Zoe nickte und stieg gehorsam wieder ins Auto. Shelley hatte sie unterstützt, ihr den Rücken gestärkt. Das war ein gutes Zeichen. Sie war dankbar und fühlte sich nicht übergangen, wenn Shelley diejenige war, die die Befehle gab. Es war egal, solange Leben gerettet wurden.
„Puh!“ Shelley hielt inne, lehnte sich mit einer aufgefalteten Landkarte im Beifahrersitz zurück. „Wird nicht einfacher, oder? Eine Frau, ganz alleine unterwegs, keine Provokation. Sie hat das nicht verdient.“
Zoe nickte wieder. „Stimmt“, sagte sie, nicht sicher, was sie sonst zu der Unterhaltung beitragen konnte. Sie ließ das Auto an und fuhr los, um die Stille zu füllen.
„Du sprichst nicht sehr viel, oder?“ fragte Shelley. Sie hielt einen Moment inne, bevor sie hinzufügte: „Das ist in Ordnung. Ich will nur verstehen, wie du tickst.“
Der Mord war unverdient, das war richtig. Zoe konnte das erkennen und verstehen. Aber was geschehen war, war geschehen. Jetzt hatten sie einen Job zu erledigen. Die Sekunden vergingen, über die normale Zeit für eine erwartete Antwort hinaus. Zoe überlegte, aber ihr fiel nichts ein, was sie sagen konnte. Der Moment war vorbei. Wenn sie jetzt sprach, würde es noch seltsamer wirken.
Zoe versuchte, sich darauf zu konzentrieren, beim Fahren eine traurige Miene aufzusetzen, aber es war zu schwierig, beides gleichzeitig zu tun. Sie hörte auf, sich die Mühe zu machen, ihr Gesicht entspannte sich zu ihrem üblichen leeren Blick. Es war nicht so, dass sie nichts dachte, oder hinter ihren Augen keinerlei Gefühle stattfanden. Es war nur schwierig, darüber nachzudenken, wie ihr Gesicht aussehen sollte und es bewusst zu kontrollieren, während ihr Gehirn damit beschäftigt war, die genaue Entfernung zwischen jeder Straßenmarkierung zu berechnen und sicherzustellen, dass sie eine Geschwindigkeit einhielt, bei der das Auto nicht umkippen würde, wenn sie auf dieser Art Asphalt ausscheren musste.
Sie nahmen die Straße, folgten der glatteren Oberfläche, die sich durch die flache Landschaft wand. Zoe konnte bereits sehen, dass sie in die richtige Richtung führte, was es ihnen ermöglichte, ihn einzuholen, wenn er in direkter Linie geradeaus rannte. Sie trat fest auf das Pedal, nutzte den Vorteil des Asphalts, um schnell voranzukommen.
Eine Stimme knisterte durch das Funkgerät, riss Zoe aus ihren Gedanken.
„Der Verdächtige ist in Sicht. Over.“
„Verstanden“, antwortete Shelley. Sie war präzise und verschwendete keine Zeit, was Zoe schätzte. „Koordinaten?“
Der Hubschrauberpilot ratterte seine Position herunter und Shelley nutzte ihre Landkarte, um Zoe den Weg anzusagen. Sie mussten ihre Route nicht verändern – sie waren genau in der richtigen Richtung. Zoe umklammerte das Steuer fester, fühlte den Nervenkitzel der Bestätigung. Ihre Annahmen waren korrekt gewesen.
Schon kurz darauf sahen sie den Helikopter über einem örtlichen Streifenwagen in der Luft stehen, dessen beide Insassen anscheinend schon ausgestiegen waren und den Sträfling überwältigt und auf den Boden gedrückt hatten. Er lag im Sand, der sich durch die neue Last verschob, und fluchte.
Zoe hielt den Wagen an und Shelley sprang sofort hinaus, gab über ihr Sprechfunkgerät Informationen weiter. Eine kleine Gruppe Männer mit Hunden näherte sich bereits aus dem Südosten, die Hunde bellten vor Aufregung, nachdem sie die Quelle des Geruchs gefunden hatten, dem sie gefolgt waren.
Zoe hob die Landkarte hoch, die Shelley losgelassen hatte, verglich sie mit dem Navigationssystem. Sie waren in direkter Bahn eine Achtelmeile von dem Punkt entfernt, an dem sie ihn vermutet hatte. Er musste aus der Felszunge herausgelaufen sein, als er die Hunde gehört hatte.
Sie erlaubte sich ein Siegeslächeln, sprang aus dem Auto, um sich ihnen mit neuem Elan zuzugesellen. Draußen unter der brennenden Sonne erwiderte Shelley ihr strahlendes Grinsen, offensichtlich glücklich, dass sie ihren ersten gemeinsamen Fall schon abgeschlossen hatten.
Später, als sie wieder im Auto waren, senkte sich das Schweigen erneut herab. Zoe wusste nicht, was sie sagen sollte – sie wusste es nie. Geplauder war ihr ein absolutes Rätsel. Wie oft konnte man das Wetter erwähnen, bevor es ein offensichtliches Klischee wurde? Wie oft musste sie öde Unterhaltungen über unwichtige Dinge führen, bevor das Schweigen kameradschaftlich wurde, nicht mehr unbehaglich war?
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