“Nein,” unterbrach sie Sara. “Papa ist nicht das Problem. Er geht toll mit mir um, vielleicht viel besser, als ich es verdient habe.” Ihr Blick schweifte über den Boden. “Ich bin das Problem. Weil ich ganz genau weiß, dass wenn ich hundert Dollar in der Tasche hätte und hinkönnte, wo ich wollte, er mich wieder abholen müsste. Und das nächste Mal kommt er vielleicht nicht rechtzeitig an.”
Mayas Herz brach, als sie offensichtliche Qual in den Augen ihrer Schwester bemerkte und wusste, dass es nichts gab, was sie tun könnte, um zu helfen. Sie hatte nur leere Worte der Ermutigung, die bedeutungslos waren, um ihre Probleme zu lösen.
Plötzlich fühlte sie sich ganz fehl am Platz in dieser fremden Küche. Sie hatten zusammen so viel durchgestanden. Aufgewachsen. Um ihre Mutter getrauert. Ihren Vater entdeckt. Familienurlaub und Flucht vor Mördern. Die Art von Dingen, von denen man annahm, dass sie zwei Menschen einander näherbrachten, eine unzerbrechliche Verbindung schafften, hatten stattdessen die leere Stille erzeugt, die sich in dem Raum zwischen ihnen aufblähte.
Würde es jetzt immer so sein? Würde das Mädchen vor ihr immer unerkennbarer werden, bis sie nur noch Fremde waren, die zufällig verwandt waren?
Maya wollte etwas sagen, irgendwas, um sich davon zu überzeugen, das sie falsch lag. Sich gemeinsam an einen glücklichen Moment erinnern. Oder sie Mäuschen nennen, ihren Spitznamen aus der Kindheit, den sie wer weiß wie lange schon nicht mehr benutzt hatte.
Bevor sie überhaupt etwas sagen konnte, rasselte der Türknauf hinter ihnen. Maya drehte sich um, als die Tür aufging, ihre Hände ballten sich instinktiv zu Fäusten an ihrer Seite. Ihre Nerven spannten sich immer noch an, wenn es um unerwartete Eindringlinge ging.
Doch es war kein Eindringling. Es war ihr Vater, der zwei Einkaufstaschen trug und scheinbar vorsichtige Schritte in die Küche tat, als er sie sah.
“Hallo.”
“Hallo Papa.”
Er stellte die Einkaufstaschen auf den Boden und ging einen Schritt auf sie zu, öffnete die Arme, doch hielt dann inne. “Darf ich…?”
Sie nickte einmal und er legte seine Arme um sie. Es war zuerst eine zögerliche Umarmung – doch dann bemerkte Maya seltsamerweise, dass er immer noch genauso roch. Es war ein überwältigend nostalgischer Duft, ein Duft aus ihrer Kindheit, der nach tausend weiteren Umarmungen roch. Und vielleicht war sie älter und vielleicht sah Sara anders aus, vielleicht war sie sich immer noch nicht ganz sicher, wer ihr Vater war und vielleicht standen sie an einem neuen Ort, den sie Zuhause nennen sollte, doch in diesem einen Moment fühlte sich nichts davon wichtig an. Der Moment fühlte sich an wie Zuhause und sie lehnte sich an ihn, drückte ihn fest an sich.
* * *
Maya zog die Glasschiebetür am Ende der Wohnung auf und sich einen Kapuzenpulli an, um sich vor der kühlen Nachtluft zu schützen. Die Wohnung hatte keinen Garten, aber es gab eine kleine Veranda, die mit einem kleinen Tisch und zwei Stühlen ausgestattet war.
Ihr Vater saß in einem von ihnen, nippte an einem Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Maya setzte sich auf den anderen und bemerkte, wie klar die Nacht war.
“Schläft Sara?” fragte er.
Maya nickte. “Sie ist auf der Couch eingedöst.”
“Das macht sie in letzter Zeit viel”, sagte er besorgt, “schlafen, meine ich.”
Sie erzwang ein kleines Lachen. “Sie hat schon immer viel geschlafen. Ich würde mir darüber nicht so viele Sorgen machen.” Sie zeigte auf das Glas in seiner Hand. “Bier?”
“Eistee.” Er grinste verlegen. “Seitdem ich wieder bei der Arbeit bin, trinke ich nicht mehr.”
“Und wie läuft es?”
“Nicht schlecht”, gab er zu. “Ich war in letzter Zeit bei keinen Einsätzen, weil ich mich um Sara kümmere und immer noch trainiere.”
“Ich wollte schon erwähnen, dass du abgenommen hast. Du siehst besser aus als…”
Als das letzte Mal, an dem ich dich sah, wollte Maya sagen, doch hielt sich zurück, da sie nicht die Erinnerung an diesen Besuch heraufbeschwören wollte, als sie Greg mitgebracht hatte, wütend wurde, hinausstürmte, ihn dort hinterließ und ihrem Vater sagte, dass sie ihn nie wieder sehen wollte.
“Danke”, sagte er schnell und dachte offensichtlich dasselbe. “Alles OK mit der Akademie?”
Sie hatte es ihm schon zuvor beim Abendessen erzählt, doch es schien, als ob er ihr nicht ganz glaubte – und sie erinnerte sich daran, dass es ein Teil seiner Arbeit war, Leute lesen zu können. Es hatte keinen Sinn, ihn anzulügen, doch das bedeutete nicht, dass sie alles erzählen musste.
“Ich möchte eigentlich nicht über die Akademie reden”, antwortete sie ihm gerade heraus. Sie wollte nicht darüber reden, wie manchmal Dinge aus ihrem Schließfach verschwanden. Oder wie Jungs ihr gemeine Sachen über den Innenhof zuriefen. Oder dass sie nicht das Gefühl loswerden konnte, dass dies erst der Anfang der Schikanen war. Dass je mehr sie versuchte, sie zu ignorieren, die Jungs bei West Point weitermachen würden.
“In Ordnung.” Ihr Vater räusperte sich. “Äh, es gibt da allerdings etwas, das ich erwähnen möchte. Ich hätte dich zuerst fragen sollen. Doch Maria war morgen nirgendwo eingeladen und es erschien mir nicht richtig…”
“Ist schon in Ordnung, Papa.” Maya grinste bei seinem ungelenken Versuch, ihre Erlaubnis einzuholen. “Natürlich macht es mir nichts und du brauchst nicht meine Erlaubnis.”
Er zuckte mit den Schultern. “Du hast wohl recht. Es ist nur – du bist so erwachsen jetzt. Ihr beide. Ich habe ein paar wichtige Momente verpasst.”
Maya nickte ein wenig, doch sie fand es nicht notwendig, ihre Zustimmung auszusprechen. Stattdessen änderte sie das Thema. “Was du für Sara machst, ist toll. Ihr so zu helfen. Es scheint, als bräuchte sie das wirklich.”
Dieses Mal nickte ihr Vater leicht, starrte über die Veranda ins Nichts. “Ich würde alles was ich könnte für sie tun”, sagte er versonnen. “Aber das ist vielleicht immer noch nicht genug.”
“Was meinst du?”
Er nahm einen Schluck Eistee, bevor er erklärte. “Letzte Woche sind wir Essen gegangen, nur wir beide, in der Stadtmitte. Es war schön. Wir haben geredet. Es schien, ihr gut zu gehen. Als die Rechnung kam, bezahlte ich mit einem Hundert-Dollar-Schein. Und da geschah etwas. Es schien, als ob ein Schatten über sie fuhr. Ich sah, wie sie das Geld anschaute und dann die Tür und…”
Ihr Vater wurde still, doch Maya verstand ihn ohne weitere Worte. Jetzt verstand sie Saras vorheriges Kommentar. Sie hatte tatsächlich darüber nachgedacht, das Geld zu nehmen und wegzulaufen. Mit hundert Dollar wäre sie nicht besonders weit gekommen, doch sie dachte vermutlich nur darüber nach, so schnell wie möglich an eine Dosis Drogen zu gelangen.
“Ich bin mir sicher, dass du bemerkt hast”, fuhr ihr Vater fort, “dass die Wohnung ziemlich schmucklos ist. Ich habe nicht viel Dekoration aufgestellt, weil…”
Weil du Angst hast, dass sie die vielleicht stiehlt. Sie verpfändet. Wieder abhaut. Die CIA hatte ihn, seit Sara bei ihm lebte, nirgendwo hingeschickt, doch früher oder später würde das geschehen – und was wäre dann? Würde Sara nur hier sitzen und darauf warten, dass er zurückkäme? Oder stünde sie unter einem Fluchtrisiko, wenn man sie sich selbst und ihren Dämonen überließ?
“Es ist so viel schlimmer als ich dachte”, murmelte Maya. Dann fügte sie entschieden und ohne einen weiteren Gedanken darüber zu verschwenden hinzu: “Ich bleibe.”
“Was?”
Sie nickte. “Ich bleibe. Es sind nur noch drei weitere Wochen an der Akademie vor den Weihnachtsferien. Ich kann die Arbeit nachholen. Ich bleibe hier über die Ferien und gehe nach Neujahr nach New York zurück.”
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