«Ich muß sagen, man braucht sich wirklich nicht anzustrengen, um ihn zu unterhalten», erklärte sein Kindermädchen, das keine Ahnung hatte, daß kein Spiel und keine Geschichte es mit den Dramen aufnehmen konnten, die Quin in seinem Kopf in Szene setzte. Von den Dinosauriern aus marschierte er vorwärts und rückwärts durch die Erdgeschichte. Er las von den geologischen Schichten der Erde, von Leuchtfischen und den Säugetieren des Pleistozäns. Als er elf war, setzte er beinahe täglich sein Leben aufs Spiel, wenn er auf der Suche nach Fossilien in Klippen und Steinbrüchen herumkletterte. In den alten Stallungen hatte er begonnen, eine Sammlung anzulegen, der er den stolzen Namen «Somerville-Museum für Naturgeschichte» gab. Als er älter wurde und Harry allmählich verblaßte, wurde das Museum erweitert, nahm nun auch die Meeresfunde auf, die allenthalben zu machen waren. Denn Quins Zuhause stand ja an der Nordsee über dem sandgesäumten Halbmond der Bowmont-Bucht, deren Felstümpel sein Kinderzimmer waren; die Geschöpfe in ihnen interessanter als jedes Spielzeug.
Quin wäre verdutzt gewesen, hätte jemand ihm gesagt, daß er «Wissenschaft betrieb» oder «sich bildete», und später, in Cambridge, war er erheitert über den feierlichen Ernst, mit dem man dort Kenntnisse vermittelte, die er sich vor seinem elften Lebensjahr angeeignet hatte, und über die umständlichen Vorbereitungen für Exkursionen zu Orten, an denen er mit Turnschuhen herumgeklettert war.
Beim Abschlußexamen in Naturgeschichte schnitt er – es war beinahe peinlich, wie leicht es ihm fiel – als Bester ab. Dank seiner ungebundenen Kindheit jedoch verspürte er keine Neigung, eine feste Anstellung an einer Schule oder Universität anzunehmen. Da er seit seinem achtzehnten Geburtstag finanziell unabhängig war, konnte er es sich leisten, seine Zeit vor allem Expeditionen in schwer zugängliche Gebiete der Erde zu widmen; jetzt aber verliebte er sich in die Stadt Wien.
Nicht in das Wien der Operette und der Cremetörtchen, auch wenn er derlei Genüsse durchaus zu schätzen wußte, sondern in die strengen Arkadenhöfe der Universität im Schmuck der steinernen Büsten ehemaliger Lehrer. Da war Doppler neben Semmelweis zu sehen, dem «Retter der Mütter», der das Kindbettfieber gebannt hatte, und Billroth, der Chirurg, der mit Brahms befreundet gewesen war. In der Bibliothek der Hofburg drehte Quin den gewaltigen, auf goldenem Sockel stehenden Globus, vor dem Kaiser Ferdinand gestanden hatte, ehe er seine Forscher in die Welt hinaussandte. Und im Naturhistorischen Museum entdeckte er eine kleine, häßliche Figur mit dickem Bauch, die Venus von Willendorf, von Menschenhand geschaffen zu einer Zeit, als noch Mammut und Säbelzahntiger die Erde unsicher gemacht hatten.
Als das Semester zu Ende ging, luden die Bergers ihn in ihr Haus am Grundlsee ein.
«Es ist so schön dort», versicherte Ruth. «Der Regen und die Salamander – und wenn man sich auf dem Steg auf den Bauch legt, kann man durch die Ritzen massenhaft kleine Fischlein sehen, wie eingerahmt.»
Eigentlich wurde er in Cambridge zurückerwartet, aber er nahm die Einladung an und entpuppte sich als begabter Heidelbeerpflükker und kraftvoller Ruderer, der mit gleicher Begeisterung wie alle anderen «Wunderbar!» rief. Sie genossen seine Gesellschaft, und er seinerseits nahm herrliche Erinnerungen an das österreichische Landleben mit nach Hause: Tante Hilda, im knielangen gestreiften Badekostüm energisch schwimmend, ohne von der Stelle zu kommen; die betagte Mutter des Professors, im Rollstuhl einen unbefugt eingedrungenen Ziegenbock jagend; und Klaus Biberstein, zweiter Geiger des Ziller-Quartetts, der Leonie liebte, aber einen empfindlichen Magen hatte und gegen Mitternacht hinausschlich, um seinen heimlich unterschlagenen Knödel an die Fische zu verfüttern.
Ruth sah er relativ selten. In einer dieser Holzhütten, die österreichische Musiker so lieben, übte nämlich Vetter Heini sein Klavierspiel, und sie hatte alle Hände voll damit zu tun, ihn mit Krügen voll Milch und Tellern voll Keksen bei Kräften zu halten. Einmal traf er sie mit einem recht erstaunlichen Sortiment von Büchern am Seeufer an: Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis, Louisa May Alcotts Kleine Frauen und ein grell aufgemachtes Cowboybuch mit dem Titel Jakes letzter Kampf.
Als er kam, war sie gerade mit gefurchter Stirn in den KrafftEbing vertieft.
«Du meine Güte!» sagte er. «Darfst du das denn lesen?»
Sie nickte. «Ich darf alles lesen. Leider muß ich aber auch alles essen, sogar Grießbrei.»
Am Abend vor seiner Abfahrt ließ Miss Kenmore sich nicht länger zurückhalten und teilte Quin mit, daß Ruth ihm nach dem Essen Keats' Ode an eine Nachtigall aufsagen werde.
«Sie kann das ganze Gedicht auswendig, Dr. Somerville», er klärte Miss Kenmore – und Quin gesellte sich, einen Seufzer unterdrückend, zur Familie ins Wohnzimmer mit den hohen Fenstern, die zum See geöffnet waren.
Ruth trug das helle Haar offen, ein Samtband hineingeschlungen – es war offensichtlich ein bedeutender Anlaß; doch zuerst einmal mußte Quin den Blick senken und hatte Mühe, seine Gesichtszüge zu beherrschen: sie trug die berühmten Worte mit unverkennbar schottischem Akzent vor.
Erst als sie zum vorletzten Vers kam, zu jenem Teil des Gedichts, der sie persönlich anzugehen schien, da er von ihrer Namensvetterin sprach, hob er, von einem Ton in ihrer Stimme aufmerksam gemacht, den Kopf.
«Vielleicht ist es das alte Lied, das Ruth ins Herz drang, als sie ohne Heimat war und Tränen ausgoß über fremdem Korn ...»
Abgedroschene Zeilen, Worte, die ihm die Schule verleidet hatte – und dennoch besaßen sie die Macht, ihn zu ergreifen.
Aber in keinem der Anwesenden, in keinem der Menschen, die Ruth liebten und sich von der Traurigkeit des Gedichts bewegen ließen, weder in Quin noch in Ruth selber erwachte auch nur der Schimmer einer Vorahnung. Niemand bekam eine Gänsehaut; kein Geist schwebte über das stille Wasser des Sees. Daß dieses behütete, geliebte Kind jemals gezwungen sein sollte, seine Heimat zu verlassen, war unvorstellbar.
Am nächsten Tag reiste Quin nach England ab. Die ganze Familie brachte ihn zur Bahn und lud ihn ein, bald wiederzukommen – aber acht Jahre vergingen, ehe er nach Wien zurückkehrte, und da kam er in eine andere Stadt, in eine andere Welt.
An dem Tag, als Hitler in Wien einmarschierte, befand Professor Somerville sich in Nordindien und führte die Mitglieder seiner Expedition, denen von Dankbarkeit nichts anzumerken war, bergabwärts durch eine Schlucht, die so eng war, daß überhängende Felsen alles bis auf einen schmalen Streifen des klaren blauen Himmels verdeckten.
«Niemals bekommen wir die Tiere da hinunter», hatte der belgische Geologe, den er hatte mitnehmen müssen, geunkt.
Doch Quin hatte nur vage erwidert, er glaube, es werde schon irgendwie gehen, womit er meinte, wenn alle sich mächtig anstrengten und genau taten, was er ihnen sagte, bestünde eine Chance – und jetzt weitete sich die Schlucht tatsächlich, sie kamen an den ersten Bäumen vorüber und marschierten wenig später durch Föhren- und Zedernwald, bis sie die Talsohle erreicht hatten.
«Hier schlagen wir unser Lager auf», sagte Quin und wies auf einen Platz, wo der ruhige Fluß, der gemächlich vorüberströmte, an überhängenden Weiden zerrte, und Orchideen und Lilien das Grasland sprenkelten.
Später, als die Maultiere weideten und der Rauch des Feuers in die stille Luft aufstieg, setzte er sich an einen Baumstamm und nahm seine alte Pfeife heraus. Er war dreißig Jahre alt. Furchen krausten seine Stirn und zogen sich von den Winkeln seines Mundes abwärts, die dunklen Augen konnten hart blicken, aber in diesem Moment war er glücklich. Den düsteren Prognosen des Belgiers zum Trotz, dessen Brille von einem Yak zertreten worden war; den Beteuerungen der Träger zum Trotz, daß es im Frühjahr unmöglich sei, die ferneren Täler des Siwalik-Gebirges zu erreichen, hatte er einen so reichen Fund an Miozän-Fossilien gemacht, wie man ihn sich nur wünschen konnte. In Holzwolle und Leinwand eingebettet, kostbarer als jeder Goldschatz aus fürstlichen Grabkammern, befanden sich in ihrem Gepäck die unverwechselbaren Überreste des Ramapithecus, eines der frühesten Vorfahren des Menschen.
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