„Was?“, fragte ihr Mann erschrocken.
„Blut“, wiederholte Marija Ignatjewna und sah Dobrynin aufmerksam in die Augen. „Und du… kann es sein, dass du gar nichts davon weißt?! Du warst doch an einem Ort, an dem es weder Radio noch Zeitungen gibt… Natürlich weißt du nichts davon!“
„Wovon weiß ich nichts?“
„Na… von der landesweiten Blutspendeaktion.“
„Und wofür braucht man das Blut?“, fragte der Volkskontrolleur immer noch erstaunt.
„Für den Fall eines Krieges“, antwortete Marija Ignatjewna. „Die internationale Lage ist äußerst angespannt. Also hat sich das sowjetische Volk verpflichtet, dem Vaterland zehn Millionen Liter Blut zu spenden. Es spenden natürlich in erster Linie Personen des Militärs und Kommunisten. Mit ihnen gibt es keine Probleme. Aber die Kolchosbauern…“ Marija Ignatjewna schüttelte missbilligend den Kopf. „Sie verstehen es nicht… Sie haben das Besitzdenken noch nicht überwunden.“
„Und wie kann man einem Menschen Blut abnehmen?“, dachte der Volkskontrolleur laut nach. „Das ist doch schwierig…“
„Daran ist überhaupt nichts Schwieriges!“, überzeugte ihn seine dienstliche Frau. „Es ist sogar sehr leicht, es wird in einem medizinischen Verfahren aus der Vene entnommen. Eine spezielle, fünfzigtausend Mann starke Gruppe von Arzthelfern wurde dafür ausgebildet. Sie nennen sich die Fünfzigtausender. Und du, Pawluschka, hast wahrscheinlich noch kein Blut gespendet, wo du doch nichts davon wusstest?“
Dobrynin fühlte, wie seine Füße kalt wurden. Er hatte wirklich noch kein Blut gespendet, aber es verlangte ihn auch nicht besonders danach. Er musste jedoch auf die Frage seiner Frau antworten und zwar so, dass sie nichts Schlechtes von ihm dachte.
„Noch nicht…“, stammelte Pawel Aleksandrowitsch. „Ich wusste nichts davon…“
Das klang nicht sehr überzeugend, Dobrynin bemerkte selbst den feigen Unterton in seiner Stimme und presste die Lippen zusammen. Und auf einmal, vielleicht kam das von dem Gedanken daran, schmeckte er auf seiner Zunge Blut.
„Das macht nichts, keine Angst!“, beruhigte ihn Marija Ignatjewna. „Man kann noch fünf Monate lang Blut spenden!“
„Aha“, sagte Dobrynin. „Gut…“
„Pawluschka, möchtest du etwas essen? Hast du heute schon zu Mittag gegessen?“
„Nein“, erwiderte der Volkskontrolleur. „Aber ich bin nicht hungrig…“
„So darf man nicht mit seiner Gesundheit umgehen!“, meinte seine dienstliche Ehefrau streng. „Du gehörst dir schließlich nicht selbst! Du gehörst dem Vaterland, das heißt, jede Krankheit deines Organismus ist Sabotage! Verstehst du?“
Dobrynin nickte.
Marija Ignatjewna ging ins Zimmer, um über das Telefon das Mittagessen zu bestellen.
Der Volkskontrolleur blieb sich selbst überlassen zurück und fühlte, wie seine Gedanken unangenehm in Bewegung geraten waren, von denen alle oder beinahe alle mit einem Fragezeichen endeten. Was sollte er tun? Wie sollte er sich seiner dienstlichen Ehefrau gegenüber verhalten, vor allem wenn man berücksichtigte, dass sie die Vorsitzende der Frauenratskommission des Obersten Sowjets war. Musste er ihr über die Arbeit, die er geleistet hatte, berichten? Musste er ihre Umarmung denn erwidern, wenn sie ihn zuerst umarmte? Dutzende Fragen, von den allereinfachsten und dümmsten bishin zu ganz unbegreiflichen, geisterten durch das erschöpfte und deshalb getrübte Bewusstsein des Volkskontrolleurs. Der Kopf begann ihm davon schon richtig weh zu tun.
„Es wird gleich gebracht!“, teilte Marija Ignatjewna fröhlich mit, als sie wieder im großen Zimmer erschien. „Ich gehe in die Küche und wische den Tisch ab.“
Dobrynin folgte seiner dienstlichen Frau mit dem Blick und blieb zu seiner Freude kurz wieder allein zurück.
Im Arbeitszimmer klingelte das Telefon.
Der Volkskontrolleur vermutete, dass seine Frau es hören und hinlaufen würde, um den Hörer abzunehmen. Es war doch sicherlich für sie. Schließlich lebte sie ständig hier. Marija Ignatjewna ging aber nicht zum Telefon und so läutete es immer weiter. Pawel Aleksandrowitsch musste schließlich selbst aufstehen und zu dem monoton schrillenden Apparat gehen. Er betrat das Arbeitszimmer, ging zum Tisch und nahm den Hörer ab.
„Hallo! Hallo! Ist das die Wohnung des Genossen Dobrynin?“, kam eine schroffe männliche Stimme aus dem Hörer.
„Ja“, antwortete Pawel Aleksandrowitsch.
„Und wer ist am Apparat?“, fragte die Stimme.
„Ich… Dobrynin…“
„Ah, guten Tag! Ein Wagen ist zu Ihnen unterwegs, halten Sie sich bereit! Warten Sie in fünf Minuten beim Hauseingang.“
„In Ordnung.“ Dobrynin zeigte sich einverstanden und freute sich insgeheim über die Gelegenheit, dem „Familienessen“ zu entfliehen.
Aus dem Hörer klang nur noch ein schnelles Tuten, aber Dobrynin hielt ihn immer noch in der Hand, während er seinen Gedanken nachhing, die ihm vertraut wie die Vergangenheit waren.
„Pawluschka!“ Aus der Tiefe der Wohnung drang die Stimme seiner Frau an sein Ohr.
Der Volkskontrolleur legte den Hörer auf das Telefon, ging in den Flur hinaus, zog Stiefel an und blickte in die Küche.
„Ich habe… ich kann nicht zu Mittag essen… Ein Wagen kommt mich abholen… Marija Ignatjewna, Sie haben…“
„Was ist mit dir, Pawluschka?!“, war die dienstliche Ehefrau ehrlich erstaunt. „Wieso sprichst du so mit mir, als wäre ich eine fremde Person für dich?“
„Entschuldige…“, seufzte Dobrynin. „Ich muss nach unten gehen. Man hat einen Wagen geschickt.“
„Aber das macht doch nichts, ich werde veranlassen, dass man dein Abendessen auf dem Herd warmhalten soll, bis du zurückkommst!“, versprach Marija Ignatjewna. Sie kam leichtfüßig auf ihn zu und küsste ihn wieder auf die Schläfe.
„Ich gehe dann!“, sagte der Volkskontrolleur nun schon entschiedener und verließ schnell die Wohnung. Dabei schlug er die Tür fest hinter sich zu, damit das Sicherheitsschloss automatisch zuschnappen konnte.
Auf der Stiege kam ihm der Hausmeister Wasilij entgegen. Als er Dobrynin sah, lächelte er erfreut. Dann stutzte er plötzlich und fragte:
„Aber wo wollen Sie denn hin, Genosse Dobrynin, ich bringe doch das Mittagessen…“
„Ich muss dringend in den Kreml, Wasilij. Man hat mich rufen lassen“, erklärte der Volkskontrolleur mit völlig veränderter, mutigerer Stimme.
Wasilij schüttelte den Kopf, um Dobrynin zugleich sein Mitleid und seinen Respekt zu bezeigen.
„Schade“, sagte er. „So eine gute Suppe, ganz russisch, mit Kohl. Als Hauptspeise Blutwurst mit Buchweizengrütze, und Sie müssen in den Kreml. Die Blutwurst ist so gut, dass man sich alle zehn Finger abschleckt, ich habe sie gerade erst beim Koch probiert…“
Bei der Erwähnung der Blutwurst spürte Dobrynin wieder den Geschmack von Blut auf der Zunge. Er ärgerte sich darüber, spuckte unfein aus und lief, ohne ein weiteres Wort an den Hausmeister zu richten, über die Treppe nach unten.
Genau in diesem Moment fuhr ein Wagen vor dem Hauseingang vor. Dobrynin nahm auf dem Vordersitz neben dem Fahrer Platz und murmelte: „Los!“
Es war immer noch hell. Auf den Gehsteigen waren viele Fußgänger unterwegs. Auf den Kreuzungen standen Wachposten ganz in Weiß und gaben den Autofahrern Zeichen mit speziellen Stäben. Aber immer wenn der Wagen, in dem Dobrynin saß, zur nächsten Kreuzung kam, nahm der Milizionär Haltung an, hielt den Verkehr an und salutierte, während er sie passieren ließ. Doch ärgerte das Dobrynin diesmal, er regte sich richtig darüber auf, und das alles nur wegen des beharrlichen Blutgeschmacks auf der Zunge.
Sie fuhren durch ein anderes Tor als gewohnt in den Kreml, und als der Wagen auch noch vor einem ganz anderen Gebäude anhielt, begriff der Volkskontrolleur, dass er dieses Mal nicht zu Genosse Kalinin gebracht wurde, sondern an einen anderen Ort.
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