Der Gastgeber bemerkte, dass Pawel den Mund öffnete, dann aber doch schwieg, und er fragte geradeheraus:
„Was wollten Sie denn sagen, Genosse Dobrynin?“
„Also ich… Ich habe etwas zum Tee, in meinem Sack… Zwieback hatte ich, aber man hat ihn mir abgenommen…“
„Wer war das?!“, fragte Kalinin ernst, das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und die gutmütig zusammengekniffenen Augen verwandelten sich in zwei kleinkalibrige Gewehre.
Pawel erzählte ihm, was unten vorgefallen war, woraufhin Genosse Kalinin einen Blick in den Korridor warf und etwas hinausrief. Als ob nichts gewesen wäre, bat er die Gäste daraufhin nachdrücklich, sich an den Tisch zu setzen, und nahm selbst dort Platz. Es war ein Beistelltisch für drei Besucher, der die ganze Möbelkombination dieses Zimmers einem verschnörkelten „T“ ähneln ließ. Genosse Kalinin machte nicht die Runde um den großen Schreibtisch, um sich in seinen Sessel zu setzen, sondern setzte sich neben seine Gäste, so als wäre er der dritte Besucher.
Ein Soldat brachte auf einem Tablett drei Teegläser in Glashaltern, goss Tee hinein und stellte hierauf eine Dose auf den Tisch, die randvoll mit Würfelzucker gefüllt war. Dann ging er hinaus.
Nach einer weiteren Minute brachte man Pawels Reisesack ins Zimmer. Er wurde von einem älteren Milizionär gebracht, der ihn seinem Besitzer direkt in die Hand gab und verschwand.
„Also, dann rücken Sie mal Ihren Zwieback heraus!“, kommandierte der Gastgeber fröhlich.
Dobrynin kramte das ersehnte Säckchen heraus, knüpfte es auf und schüttete einige Zwiebackscheiben direkt auf das Tablett. Dabei bemerkte er, dass eine Scheibe angebissen war.
Auch Genosse Kalinin bemerkte das und schüttelte bekümmert den Kopf.
„Was soll man machen“, sagte er. „Mit der Disziplin ist es bei uns leider nicht weit her… Aber was soll’s!“
Und er nahm ein ganzes Stück Zwieback, tauchte es in den Tee ein und biss geräuschvoll ab.
Beim Tee sprachen sie über das Leben am Land, über die Vergangenheit und über die Zukunft, aber das Gespräch verlief irgendwie oberflächlich. Am Ende des Gesprächs blickte Genosse Kalinin Viktor Stepanowitsch plötzlich prüfend an und sagte halb im Scherz, halb im Ernst:
„Und du, Stepanytsch, hast diese Krawatte bei Petrenko unnötig gegen Heringe getauscht! Mir scheint, die Krawatte ist gestohlen…“
Pawel sah, wie sein Gefährte erblasste und die Finger auf den Tisch presste, damit sie nicht zitterten. Dann bat Genosse Kalinin ihn auch noch hinauszugehen, damit er sich mit dem Volkskontrolleur unter vier Augen unterhalten könne.
Pawel bekam Mitleid mit Viktor Stepanowitsch, so langsam erhob sich dieser vom Tisch, als ob er zu seiner Hinrichtung müsste. Aber da war nichts zu machen – er ging wie angeordnet hinaus und ließ Dobrynin mit dem Genossen Kalinin allein.
„Also dann, Pawel… Ich darf dich doch einfach so nennen?“
Pawel nickte.
„Dann lass uns zur Sache kommen. Hast du den Artikel über die Arbeiter- und Bauerninspektion gelesen?“
„Ja“, antwortete Pawel.
„Und auch verstanden?“
„Nein“, gestand der Kontrolleur.
„Das macht nichts“, beruhigte ihn Kalinin. „Das Wichtigste ist nicht, zu verstehen, sondern zu handeln. Verstanden?“
Pawel nickte wieder.
„Deine Aufgabe ist nicht gerade leicht“, fuhr Genosse Kalinin fort. „Unser Vaterland ist groß, wie du weißt. Überall muss man seine Augen haben und mit der Ordnung ist es nicht weit her. Deshalb hat man im Politbüro beschlossen, eine Reihe aufrechter Werktätiger aus den Rechtschaffensten des Volkes vorzuschlagen, ihnen alle Methoden der Volkskontrolle beizubringen und sie in verschiedene Regionen und Bezirke zu schicken, damit sie dort einen erbarmungslosen Kampf führen für wahre Ordnung, für die Qualität der Produktion und dafür, dass alle vorhandenen Aufgaben erfüllt werden. Aber die Lage in der Industrie ist schwierig geworden und wir müssen euch ohne ausreichende Schulung fortschicken. Unser Volk ist jedoch verständig. Ich denke, da wirst du schon selbst dahinterkommen. Ich werde dir alles kurz erklären. Ich unterhalte mich schließlich mit jedem der Kontrolleure persönlich und sage ganz offen: Wir haben nur wenige Kontrolleure, aber jeder ist Gold wert. Und es ist nicht schwierig, das Leben und seine Fertigungsprozesse zu kontrollieren. Du fährst in eine Stadt, erfährst, welche Werke und Fabriken es gibt und was sie produzieren. Dann gehst du direkt dorthin und sagst: ‚Ich bin ein Volkskontrolleur‘, und forderst, dass man die Erzeugnisse zur Überprüfung der Qualität vorlegt. Das ist im Grunde auch schon alles. Und dort, wo die Qualität schwierig zu überprüfen ist, dann eben nach Augenmaß, und wenn du Zweifel hast, dann nimm, was dir fragwürdig erscheint, und bring es hierher…“
„Wie denn?“, Pawel verstand nicht.
„Ich erkläre es dir etwas später!“, beruhigte ihn Genosse Kalinin. „Erst einmal muss ich dir sagen, dass dir ein nicht gerade leichtes Einsatzgebiet zugefallen ist. Der Norden… Die Bedingungen sind dort natürlich ähnlich wie im Krieg. Aber vielleicht willst du das gar nicht? Dann sag es! Vielleicht bist du nicht bereit dazu?“
„Aber nein, ich bin bereit!“, versicherte Pawel.
„Hast du denn Fragen?“, wollte Genosse Kalinin wissen.
„Ja“, gestand Dobrynin. „Wegen der dienstlichen Ehefrau… Das ist mir irgendwie… unangenehm…“
„Nun, Bruder, das muss so sein“, nickte Genosse Kalinin verständnisvoll. „Für mich selbst ist das auch schwer, ich habe schließlich auch meine eigene, wir haben noch vor 1917 geheiratet, und dann noch eine dienstliche… Was willst du machen, das ist so vorgeschrieben. Ich selbst komme aus Twer, meine Frau ist mit den Kindern dortgeblieben, und hier hab ich meine dienstliche Frau bekommen. Es gibt so eine Regel – wer nicht aus Moskau ist, der bekommt hier eine Frau, sozusagen eine Nomenklatura-Frau. Aber keine Angst, sie werden von uns überprüft und besitzen unser vollstes Vertrauen, und sollte irgendetwas sein, dann tu dir keinen Zwang an, sag es und wir tauschen deine aus…“
„Na, wenn das so vorgeschrieben ist…“, Pawel machte eine verwunderte Geste mit der Hand.
„Macht dir vielleicht sonst noch etwas Sorgen? Denkst du an deine Familie?! Da sei beruhigt, sie sind in der Obhut der Partei. Es ist also alles in Ordnung, wie du siehst… So, und jetzt das Wichtigste. Ich habe mich entschlossen, dir ein Geschenk zu machen, Pawel… Kein schlichtes Geschenk…“ Genosse Kalinin sah forschend in die Augen des Volkskontrolleurs. „Ein Geschenk, für das viele ihr halbes Leben geben würden. Kurz gesagt, ich schenke dir ein weißes Pferd.“
Nachdem er tief geseufzt hatte, schwieg Genosse Kalinin einige Zeit. Dabei ging ihm offenbar etwas durch den Kopf oder aber er schwelgte in Erinnerungen.
Pawel aber horchte auf die Stille, die entstanden war, und dachte nach. Er dachte darüber nach, dass man ihn höchstwahrscheinlich nicht zufällig ausgewählt hatte, und auch nicht aus dem Wunsch heraus, einen ehrlichen und rechtschaffenen Menschen loszuwerden. Dafür gab es offenbar besondere Gründe, die er, wenn überhaupt, nicht so bald erfahren würde.
Draußen wurde es Abend, und ungeachtet dessen, dass gleich nebenan das Großstadtleben tobte, war es still und ruhig. Vielleicht sogar ruhiger als zur selben Zeit im Dorf Kroschkino, wo mit dem Einfall der Dämmerung die Hofhunde dreist wurden, sobald man sie nicht mehr sehen konnte, und ihre bellende Unterhaltung begannen, in der sie einander erzählten, wer von ihnen einen wie großen Knochen erhalten hatte. Dort würde das Gebell jetzt bis Mitternacht andauern, bis ihre Besitzer, die schon ganz benommen davon waren, ihre Köter beschimpfen würden, worauf der Stock zu folgen drohte, und nachdem die Hunde das selbstverständlich wussten, würden sie rechtzeitig verstummen und ihre Schnauzen in die warme Erde stecken.
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