»Ben!«
Er wischte heftiger. Sein Kopf löste sich und fiel in seinen Schoß. Cordie setzte sich schreiend auf.
Sie befand sich in der Hütte.
Lilly saß neben ihr. »Ein Albtraum?«, fragte das Mädchen.
Cordie hob die Hand. Sie war in einen blutigen Lumpen gewickelt und pulsierte vor Schmerz. »Mein Finger ...«, stammelte sie.
»Ja. Tja, du kannst von Glück reden, dass du nicht mehr verloren hast. Grar vertraut dir nicht besonders.«
»Ich habe ihm doch gesagt, dass ich es tun werde. Was will er denn noch? Herrgott, mein Finger/«
»Wir müssen los. Komm.«
Cordie kroch hinter Lilly her, wobei sie ihre verletzte Hand vom Boden fernhielt. Draußen schmerzte das grelle Sonnenlicht ihre Augen. Sie kniff sie zusammen und mühte sich auf die Beine.
Grar kam auf sie zu. Sein Schurz aus Haaren schlackerte um seine Beine. Er hielt ein Schwert. Für Cordie sah es nach einem Säbel aus einem Film über den Bürgerkrieg aus. Er reichte es Lilly und sagte etwas in der Sprache der Krulls.
Lilly nickte. Sie wandte sich an Cordie. »Also los. Da lang.«
Sie lief neben Lilly durch die Mitte des Dorfs auf ein großes Feuer am gegenüberliegenden Ende zu. Dort hingen Arme und Beine. Cordie senkte den Blick.
»Sag ihnen, dass du den Kopf willst.«
»Was?«
»Kigits Kopf. Du hast es versprochen. Wir holen ihn ab, wenn wir zurückkommen.«
Lilly führte sie zum Feuer. Zwei Frauen kauerten daneben und zerlegten eine Leiche.
»Sandy.«
Eine der beiden stand auf. Ihre Arme und ihr Rumpf waren blutig. Grinsend wischte sie sich Schweiß von der Stirn. Ihre linke Hand hinterließ eine rote Schliere.
»Das ist das Mädchen, das Kigit drangekriegt hat.«
»He, Glückwunsch. Wurde auch Zeit, dass die mal jemand aus dem Weg geräumt hat.«
»Sie will den Kopf.«
»Oh, sicher. Sie oder du?«
»Sag es ihr, Cordelia.«
»Ich will den Kopf.«
»Er gehört dir.«
»Wir kommen ihn später holen«, erklärte Lilly.
Sie gingen. »Sandy ist ein Miststück«, murmelte Lilly.
»Ist sie wie wir?«
»Eine Bekehrte? Ja. Bekehrte erkennt man leicht. Wir sind die Einzigen, die nicht nur die Krull-Sprache beherrschen.«
»Was ist mit Grar?«
»Er ist kein Bekehrter. Soll das ein Witz sein? Grar ist ein reinrassiger Krull.«
Cordie ging neben ihr in den Wald.
»Du solltest ihn mal hören, wenn er seine Ahnen herunterrasselt. Bis zurück hinauf zu ihm.«
»Zu wem? Manfred?«
Knurrend ging Lilly auf Cordie los, stieß sie zu Boden und ließ den Säbel hinabsausen. Die Spitze ritzte Cordies Bauch auf. »Sprich nie wieder seinen Namen aus. Wenn du es doch tust, töte ich dich. Verstanden?«
Cordie nickte.
Lilly zog den Säbel zurück. »Na schön. Steh auf.«
Cordie gehorchte. Sie drückte eine Hand auf ihren Bauch. »Verdammt, du hast mich geschnitten.«
»Sei froh, dass ich nicht mehr getan habe. Seinen Namen auszusprechen, ist das schlimmste Vergehen überhaupt.«
»Hat mir niemand gesagt.«
»Ich hab's dir gerade gesagt.«
»Aber du hättest mich nicht schneiden müssen«, murrte sie. Cordie fühlte sich verängstigt und verraten. »Ich dachte, du magst mich.«
»Ja.« Lilly zuckte mit den Schultern, dann lächelte sie kurz. »Klar, du bist in Ordnung. Trotzdem kannst du nicht rumlaufen und seinen Namen sagen. Das bringt so was von Pech.«
»Du hast das getan, weil es Pech bringt?«
»Der übelsten Sorte. Manche behaupten, er hört es, wenn man seinen Namen ausspricht, und kommt einen dann holen.«
»Das ist doch Blödsinn.«
»Möglich. Solltest du besser hoffen. Sonst hast du uns gerade beide umgebracht.«
»Grar hat seinen Namen ausgesprochen.«
»Grar darf das. Er ist der Mang. So was wie ein Medizinmann, verstehst du? Er hat besondere Kräfte.«
Sie erreichten den Bach und stiegen hinein. Das kühle Wasser umwirbelte Cordie. Es fühlte sich so gut an! Sie seufzte. Dann trank sie, bis sich ihr Bauch aufgebläht anfühlte. Sie hielt die verletzte Hand hoch und tauchte unter. Als sie sich aufrichtete, um Luft zu schnappen, hatte Lilly fast das gegenüberliegende Ufer erreicht.
Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken an Flucht.
Dumm!
Selbst, wenn sie Lilly entkommen konnte, wäre sie immer noch in den Wäldern, fernab jeder Sicherheit. Wenn die Krulls sie in die Finger bekämen ... Nein, sie wagte es nicht.
Stattdessen schwamm sie los und folgte Lilly an Land.
Lange marschierten sie durch die Hitze des Waldes.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Cordie schließlich.
Lilly zuckte mit den Achseln. »Wer weiß?«
»Weißt du denn gar nicht, wohin wir gehen?«
»Irgendwie schon. Aber ich war nur einmal dort. Das ist ein Ort, den man besser meidet. Mich würdest du dort nicht antreffen, außer für Grar. Weißt du, wenn er etwas will, dann tut man, was er sagt.«
»Hab ich schon festgestellt«, murmelte Cordie.
»Ja. Scheiße, hätte ich geahnt, dass ich in einen solchen
Schlamassel gerate ...« Sie schwang den Säbel auf einen nahen Jungbaum. Die Klinge durchschnitt den dünnen Stamm mühelos. Lilly schwang die Waffe erneut und hackte durch einen Busch. Plötzlich grinste sie.
Es war ein garstiges Grinsen, das Cordie einen kalten Schauer der Angst über den Rücken jagte.
»Weißt du, was ich tun könnte?«, fragte Lilly. Sie sah Cordie mit zu Schlitzen verengten Augen an. »Ich könnte dich erschlagen. Damit wäre das Problem gelöst.«
»Das ist nicht lustig.«
Lilly schwenkte den Säbel wild, hackte damit durch die Luft. »Ich könnte sagen, ein Thak hat es getan.«
»Grar! Er würde es herausfinden.«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Lilly!«
Der Blick des Mädchens wanderte über die Umgebung. »Ich sehe niemanden, der mich verraten könnte.«
»Kehr einfach um. Wenn du nicht zu seinem Zuhause willst, dann geh einfach. Oder bleib hier. Ich gehe den restlichen Weg allein.«
»Das wäre feige.«
»Nein, es ...«
»Außerdem funktioniert das nicht. Wenn du allein bist, bringen dich die Krulls um. Dann müsste ich mich vor Grar verantworten und er würde mir den Arsch aufreißen.« Sie trat einen Schritt auf Cordie zu.
Cordie schaute an Lillys Schulter vorbei und stieß hervor: »Da ist er!«
Lilly wirbelte herum.
Cordie ergriff die Flucht. Sie hörte ein wütendes Zischen, gefolgt von schnellen Schritten. Vor sich erblickte sie zwischen den Bäumen einen deutlichen Weg, der wie ein Tunnel anmutete. Sie rannte hinein und beschleunigte. Mit
gesenktem Kopf und fliegenden Armen zwang sie ihre Beine, sie voranzutragen, so schnell sie konnten.
Am Ende des offenen Bereichs sprang sie über einen umgestürzten Baumstamm. Sie schaute zurück. Lilly raste mit wehendem Haar auf sie zu, der Mund ein verzerrtes Loch, das Schwert hoch über dem Kopf.
Cordie preschte seitwärts, umrundete ein Dickicht, schrammte sich die Schulter an einem Baum auf, gegen den sie prallte.
Dann endeten die Bäume.
Sie brach auf eine Lichtung hervor.
Und blieb abrupt stehen.
Zwischen 20 und 30 Krulls drehten sich um und starrten sie an. Viele hoben Waffen auf.
Sie wirbelte herum. Lilly kam zwischen den Bäumen hervorgerannt, erblickte die Gruppe und senkte den Säbel. »So«, sagte sie. »Da sind wir.« Sie sprach laut mit den Krulls. Anscheinend erklärte sie Cordies Mission. Anschließend ergriff sie Cordies Arm. »Komm mit.«
Sie traten vor. Die Krulls teilten sich und Cordie erblickte das Meer der Kreuze und Köpfe. Mit einem Ruck befreite sie ihren Arm aus Lillys Griff.
»Deine Freunde sind in der Hütte.«
Cordie schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich wie betäubt.
»Hier. Der ist für dich.« Lilly streckte ihr den Säbel mit dem Griff voraus entgegen. »Benutz ihn für den Kerl.«
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