Vielleicht hatten sie einen Einbeinigen gefangen.
Oder sie hatten das fehlende Bein bereits gefressen.
Keine Köpfe.
Wie sollte er unterscheiden, was zu wem gehörte?
Auch keine Rümpfe.
Eindringlich starrte er auf die Beine. Sie sahen wie Jungenbeine aus, oder? Eines davon auf jeden Fall. Es war größer als die beiden anderen, zudem behaart.
Musste einem großen Burschen wie Ben gehört haben.
Sein Blick wanderte zu den anderen Beinen. Sie waren kleiner, dünner, wirkten fast feminin.
Ah, aber die Haut war zu dunkel.
Viel zu dunkel. Nicht die Beine seiner hellhäutigen Cordelia.
Das pummelige Mädchen sagte etwas. Sie hob einen Arm und deutete in Landers Richtung.
Die Jungen drehten sich um. Alle starrten ihn direkt an. Einer zog ein Messer von seinem Gürtel.
Ohne den Blick von der Gruppe zu lösen, kämpfte sich Lander mit rasendem Herzen durch die Wurzeln und bewegte sich auf die Mitte des Bachs zu.
Ein Junge rief ihm etwas hinterher.
Lander hob beide Arme mit geballten Fäusten über den Kopf und brüllte.
»Schnappt ihn euch!«, rief eine Stimme von hinten.
Lander wirbelte herum, erhaschte einen flüchtigen Blick auf zwei verwilderte Mädchen und tauchte unter.
Er schwamm unter Wasser. Sein Herz donnerte. Seine Lungen begannen zu brennen. Er erreichte den Grund des Bachs und zog sich vorwärts, indem er an den glitschigen Steinen Halt suchte. Als er glaubte, seine Lungen würden jeden Moment bersten, tauchte er auf. Sein Kopf brach durch die Oberfläche. Er wirbelte herum und schaute zurück.
Niemand zu sehen.
Er hatte die Biegung passiert.
Aber sie würden ihn wahrscheinlich verfolgen.
Lander hastete an Land, kletterte auf seiner Seite des Bachs die Böschung hinauf und rannte los. Er wich Bäumen aus, preschte durch Büsche hindurch, stürzte in eine Rinne und kroch deren Boden entlang, bis er zu einem abgestorbenen Baum gelangte, der quer darübergefallen war. Lander schob sich unter den alten, rindenlosen Stamm.
Er starrte auf das gräuliche Holz, das sich weniger als fünf Zentimeter über seinem Gesicht befand. Jedes Mal, wenn er Luft in seine schmerzenden Lungen sog, spürte er, wie seine Brust gegen den Stamm drückte.
Hier finden sie mich nie, dachte er.
Der gerissene Fuchs ist untergetaucht.
Die Zeit verging und er hörte keine Verfolger. In dieser Hinsicht hatte er anscheinend nichts zu befürchten.
Dennoch fühlte sich Lander unbehaglich. Im Bach hatte er etwas gesehen — etwas ungemein Wichtiges. Nur wusste er nicht, was.
Eine hässliche gelbe Spinne krabbelte unmittelbar über seinem Gesicht über den Baumstamm. Er beobachtete sie und hoffte, sie würde sich nicht fallen lassen. Als sie sich außer Sichtweite befand, versuchte er, sich zu konzentrieren.
Was hatte er beim Bach gesehen?
Mädchen, Jungen und Leichenteile.
Arme und Beine.
Beine.
Die Mädchen hatten lange, zierliche Beine gehabt. Nicht die Pummelige - ihre waren kurz und dick gewesen. Die beiden anderen, die später aufgetaucht waren. Die zwei, von denen er nur einen flüchtigen Blick erhascht hatte.
Plötzlich erinnerte er sich, dass eine davon verständlich gesprochen hatte.
»Schnappt ihn euch!«
War es das, was ihn beunruhigte? Dass sie nicht dieses Kauderwelsch benutzt hatte?
Nein, es lag an ihren Beinen.
Oder an denen des anderen Mädchens.
Beine.
Lander versuchte, sich die Mädchen ins Gedächtnis zu rufen. Beide nackt und verdreckt. Blutig. Eines größer als das andere.
Hübsche Titten.
Schamhaar wie eine Pfeilspitze, die abwärts zu dunklen Geheimnissen zeigte.
Ach, was hätte er die beiden gern getickt, diese Titten geknetet, in ihre verborgenen Spalten gestoßen.
Die Eichel seines anschwellenden Glieds stieß gegen das Holz über ihm.
Er vergaß das Unbehagen, das er zu ergründen versucht hatte. Ein neues Unbehagen hatte ihn beschlichen, ein Verlangen, das zu heilen nicht schwierig wäre.
Er brauchte nur eine Frau dafür.
Ein Mädchen.
Lander schob sich unter dem Baumstamm hervor und stand auf. Er atmete tief durch.
Die vormittägliche Luft roch wie Parfüm. Das Parfüm einer bezaubernden Frau.
Vergangene Nacht hätte er sich eine nehmen können. Viele sogar. Es wäre so einfach gewesen, als er sie in der Dunkelheit verfolgt hatte. Wenn er nur nicht so befangen gewesen wäre ... »Du kleine Maus, du graue Maus«, murmelte er. Er blickte auf seine Erektion hinab und kicherte. Gar nicht mehr so klein. Und auch nicht mehr befangen.
»Warum haben sie ihn nicht verfolgt?«, fragte Cordie.
»Weil sie Trottel sind«, antwortete Lilly. »Sie sind zu faul. Oder bloß feige. Solche Thaks können gefährlich sein, aber sie sind die Mühe wert. Man darf die ganze Leiche behalten und muss nicht teilen. Das ist wie eine Belohnung - ein Kopfgeld, verstehst du?«
»Was ist ein Thak?«
»So etwas wie ein Ausgestoßener. Wenn du Mist baust, wirst du aus dem Dorf verbannt. Dann bist du Freiwild. Die Wälder sind voll von Thaks.«
»Woher weißt du, dass der Mann einer war?«, hakte Cordie nach. Sie unterbrach das Schleppen der Leiche, um sich Schweiß aus den Augen zu wischen.
»Das merkt man«, erklärte Lilly. »Zum einen benehmen sie sich verrückt.«
Er hatte sich wirklich verrückt benommen. So zu brüllen.
Und Cordie nicht zu erkennen. Andererseits war es eigentlich kein Wunder, so, wie sie aussah. Außerdem hatte er sie nur den Bruchteil einer Sekunde angeschaut.
Cordie war knapp davor gewesen, ihm zuzurufen. Im letzten Moment hatte sie sich zurückgehalten. Er hätte versucht, sie zu retten. Und die anderen hätten ihn mit Sicherheit getötet.
»Außerdem merkt man es daran, dass sie Fremde sind«, fuhr Lilly fort. »Wenn du hier in der Gegend einen Fremden siehst, kannst du davon ausgehen, dass es ein Thak ist. Vor denen solltest du dich hüten. Meine beste Freundin wurde von einem getötet. Die Scheiße, die er ihr angetan hat...«
Cordie fragte sich, was ein Mädchen wie Lilly noch schockieren konnte. Doch sie erkundigte sich nicht danach. Sie wollte es gar nicht wissen.
»Einer kam erst vergangene Nacht ins Dorf. Hat ein halbes Dutzend von uns umgebracht. Diese Thaks sind übel. Echt übel. Die meisten von uns gehen nie allein irgendwohin, falls wir einem über den Weg laufen.«
Sie schleiften Kigit weiter. Die Leiche wirkte schwerer als zuvor. »Wie weit ist es noch bis zu diesem Dorf?«
»Wir sind fast da.«
»Gott sei Dank.« Cordie mühte sich weiter. Im Wald herrschten Hitze und Stille vor. Keine Brise rührte sich.
Schweiß kullerte ihr über die Haut. Kigits Knöchel wurde in ihren nassen Händen schlüpfrig, und sie verlor mehrmals den Halt.
»Können wir uns nicht kurz ausruhen?«, fragte sie.
»Wir sind in einer Minute da.«
»Ich habe letzte Nacht einen Thak gesehen. Wenn wir uns ein wenig ausruhen, erzähle ich dir davon.«
»Na gut. Aber mach schnell.«
Cordie ließ das Bein fallen. Mit verschwitzten Händen
wischte sie sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. Alles an ihr triefte. Sie wünschte, sie hätte ein Handtuch. »Du hast also einen Thak gesehen?« Cordie nickte. »Ja. Er hat einen Jungen getötet. Und ...« Sie konnte sich nicht dazu überwinden, Bens Namen auszusprechen. »Und meinen Freund.«
»Du meinst sie?« Lilly nicktc zu den Jungen, die mit ihrer Last aus Armen und Beinen ein Stück vorausgingen. »Das ...«
»Das sind sie. Was hast du denn gedacht?« »Ich schätze, irgendwie wusste ich es wohl«, gestand Cordie.
»Gehen wir weiter«, schlug Lilly vor.
Sie hoben die Beine an und setzten sich in Bewegung.
»Das war kein Thak, den du gesehen hast.«
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