Besser als mit irgendeinem anderen Mann seit Derek. Das war vor fast zwei Jahren gewesen. Die Trennung hatte sie in ein tiefes Loch gerissen. Sechs Monate lang hatte sie wie eine Einsiedlerin gelebt, Derek gehasst, alle Männer gehasst und doch ständig an die Zeit gedacht, die sie miteinander verbracht hatten, und davon geträumt, dass er zurückkommen würde. Fast so, als hätte sie masochistische Freude an dem Schmerz gehabt, der mit solchen Gedanken einhergegangen war.
Als sie die Einsamkeit letztlich aus dem Haus trieb, traf sie sich nur mit verzweifelten Männern. Sie wollten nachts Nealas Körper spüren, weil sie dieselbe Einsamkeit plagte. Viele versuchten, sich cool zu geben. Sie redeten großspurig daher, fuhren Porsches und verstellten sich. Andere zeigten ihre Empfindlichkeit wie eine offene Wunde - Jammerlappen, die um Aufmerksamkeit bettelten. Nur selten traf sie auf normale Kerle, die Selbstvertrauen ausstrahlten und die sie vielleicht gern näher kennengelernt hätte.
Neala vermutete, dass die meisten davon bereits verheiratet und damit beschäftigt waren, Kinder großzuziehen.
Und nun war da Johnny Robbins. Als normal konnte man ihn nicht bezeichnen - nicht, nachdem er in einer Ortschaft wie Barlow aufgewachsen und derart schreckliche Dinge getan hatte. Aber er war stark und selbstsicher. Er konnte liebenswürdig sein. Und er redete unverblümt.
Johnny unterschied sich so sehr von diesen anderen Männern - er vermittelte Unerschütterlichkeit. Jemand, auf den man sich verlassen konnte.
Jemand, den sie vielleicht lieben könnte.
Tränen traten ihr in die Augen. Sie schniefte und Johnny sah sie an.
»Tut mir leid«, sagte sie.
»Muss es nicht.«
»Es ist nur alles so entsetzlich.«
»Ich weiß.« Seine Hand streichelte ihr Haar und ihr nasses Gesicht.
»Wir werden nie Gelegenheit bekommen, einander kennenzulernen, Johnny. Ich meine, Zeit miteinander zu verbringen, etwas miteinander zu unternehmen.«
»Doch, werden wir«, widersprach er.
Sie schüttelte den Kopf. Ein Schluchzen erschütterte ihren Körper.
»Werden wir. Verlass dich drauf.«
Sein Gesicht bewegte sich dicht zu ihrem. Er sah ihr in die Augen, lächelte warmherzig und drückte den Mund auf den ihren. Ihr Kuss hielt lange an. Neala wünschte, er würde nie enden.
Cordie lag eingerollt auf dem Boden am Fuß des Baums, zitterte und wagte nicht, sich zu bewegen. Sie hatte schon lange so ausgeharrt.
Es mussten Stunden vergangen sein, seit das schauerliche Gebrüll der Kreatur durch den Wald gehallt war und sie gesehen hatte, wie die dunkle Gestalt zwischen den Bäumen hindurchgestapft war. Stunden, seit sie Bens flehentliche, verängstigte Stimme gehört hatte. Gott, er musste einen grauenhaften Tod gestorben sein.
Das Ding war danach in ihre Richtung gekommen und an ihr vorbeigegangen.
Aber es konnte immer noch in der Nähe lauern.
Dennoch konnte sie nicht mehr lange auf dem Boden bleiben. Sie musste dringend Wasser lassen und wollte sich nicht benässen.
Schließlich rollte sie sich auf den Bauch und hob den
Kopf. Ihr Blick wanderte suchend durch den Wald. Der Luft haftete ein bläulich-grauer Schimmer an, und sie konnte weit zwischen die Bäume ringsum sehen.
Voll plötzlicher Angst wurde ihr klar, dass die schützende Dunkelheit der Nacht verschwunden war.
Sie rappelte sich auf die Knie. Ihr linker Arm, taub, weil sie so lange mit dem Körper darauf gelegen hatte, hing nutzlos an ihrer Seite. Nur langsam kehrte wieder Gefühl in ihn zurück. Er begann, zu kribbeln und zu brennen. Cordie schüttelte ihn. Sie beugte die Finger. Als sich ihr Arm wieder brauchbar anfühlte, stand sie auf.
Langsam drehte sie sich um und betrachtete den Wald. Sie schien allein zu sein.
Rasch zog sie die Hose runter. Sie kauerte sich hin und erleichterte sich. Das Plätschern, als der Strahl auf dem Laubboden auftraf, hörte sich entsetzlich laut an. Während ihr Blick weiter auf den Wald geheftet blieb, wünschte sie, das Geräusch möge verstummen, doch sie war nicht bereit, sich das Pinkeln zu verkneifen; zu gut fühlte es sich an, das schmerzliche Ziehen loszuwerden. Endlich wurde sie fertig. Sie stand auf und zog die Hose hoch.
Eine Weile starrte sie in die Richtung, in die Ben geflüchtet war. Sie wollte seine Leiche nicht sehen. Andererseits konnte sie auch nicht einfach gehen. Nicht, ohne sich vergewissert zu haben, dass er tot war. Sie musste sich davon überzeugen, musste ihn sehen.
Langsam ging sie los und versuchte, sich vollkommen geräuschlos zu bewegen. Trotz ihrer Vorsicht verursachte jeder Schritt ein leises Knirschen auf dem Waldboden. Nicht viel, trotzdem genug, dass es andere hören konnten. Zu viel. Sie machte längere Schritte. Zwar wurde sie dadurch lauter, doch sie würde nicht so oft auftreten müssen, bis sie ihr Ziel erreichte.
Ein Ziel, das sie gar nicht erreichen wollte. Eigentlich wollte sie sich nur verstecken.
Aber sie musste es herausfinden.
Cordie ging weiter. Sie wusste genau, wo sie suchen musste. Die ganze Nacht lang hatte sie im Geist gesehen, wie Ben zwischen die Bäume lief, hatte ihn rennen gehört, hatte seine Stimme vernommen. Er war nicht weit gekommen. Nicht weiter, als es zu Hause von der Eingangstür zur Küche war.
Als sie seine Beine erblickte, hielt sie inne. Er lag auf dem Rücken, ein Bein gerade ausgestreckt, das andere am Knie seitwärts in eine Lage verbogen, die schmerzhaft aussah. Der Rest von Ben befand sich hinter einem Baum verborgen.
Seine Hose strotzte vor Blut.
»Ben?«, fragte sie. Das Wort drang leise wie ein Atemzug über ihre Lippen.
Trotzdem viel zu laut.
Cordie trat einen Schritt vor und erblickte mehr: den Schritt seiner Hose, den blutigen Vorderteil seines Hemds. Sie rückte weiter vor. Der Baum gab noch mehr preis: seine Brust, seinen ausgestreckten rechten Arm. Noch ein Schritt, dann könnte sie sein Gesicht sehen.
Gott, das wollte sie nicht.
Nicht in diesem Zustand.
Verzerrt, erfüllt von Bens Angst im Augenblick seines Todes.
Es hätte auch keinen Zweck. Er war offensichtlich tot. Cordie brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um das zu wissen.
Gott, es anzuschauen ...
Das Gesicht, das sie erst vergangene Nacht so ausgiebig und innig geküsst hatte.
Cordie begann zu weinen.
Sie wich zurück, bis der Baum alles außer den Beinen verbarg. Cordie starrte sie an, nahm sie durch die Tränen nur verschwommen wahr.
Die Schuhe.
Einen davon hatte sie vergangene Woche im Autokino aus dem Fenster des Wagens geworfen.
»O Ben«, stöhnte sie.
Dann rannte sie los. Sie wusste, dass sie zu viel Lärm verursachte, doch es kümmerte sie nicht.
Sollen sie mich doch erwischen. Sollen sie ruhig.
Sie lief wie besessen, weg von Ben. Sie rannte blind, mit Tränen in den Augen und in den Nacken geworfenem Kopf. Es schien besser, den blauen Morgenhimmel zu betrachten, als zu sehen, was immer kommen mochte, um sie zu töten.
Cordie preschte in ein Dickicht. Die Zweige zerrten an ihren Beinen, doch sie stemmte sich grunzend dagegen und trat um sich. Es konnte sie nicht aufhalten. Als sie jedoch auf der anderen Seite hervorbrach, verhedderte sich ihr Fuß, und sie stolperte. Mit einem Aufschrei fiel sie vornüber und drehte sich verzweifelt, um nicht auf dem nackten Jungen zu landen.
Dem Jungen, der sie in der vergangenen Nacht angegriffen hatte.
Dem Jungen, der nur Minuten vor Ben getötet worden war.
Sie prallte auf den Boden, rappelte sich hastig auf Hände und Knie und schaute zu der Leiche. Cordie erblickte Blut, Ameisen und einen breiigen Stumpf, wo der Kopf hätte sein sollen.
Sie mühte sich auf die Beine und rannte weiter. Wieder wurde ihr bewusst, dass sie zu viel Lärm verursachte.
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