Genau das gleiche Phänomen – oder zumindest eine perverse Kopie – spielt sich jetzt erneut vor Brians Augen auf einer Straße mitten in der Innenstadt von Atlanta ab. Er starrt fassunglos auf die Szene und versucht vergebens, die richtigen Worte für den Horror zu finden, der sich vor ihren Augen abspielt.
»Dreh um, Philip.« Brians Stimme klingt selbst für ihn auffallend hohl, als er die Scharen der Untoten an jeder Ecke der Stadt aufwachen sieht. Wenn man die vorherige Horde auf ihrem Weg in die Stadt mit einer römischen Legion vergleichen konnte, dann war das hier ein ganzes Imperium.
So weit das Auge reicht, strömen Untote aus jedem Loch, jedem Gebäude, hinter jedem Auto hervor – aus Wracks, aus den Seitengassen, aus zerborstenen Schaufenstern, aus den marmornen Eingängen der Regierungsgebäude, hinter den dünnen Stämmen ornamentaler Bäumchen und aus den traurigen Resten zerbombter Straßencafés. Man kann sie selbst in weiter Ferne erkennen, dort, wo die Straße im Schatten der Wolkenkratzer verschwindet. Ihre zerlumpten Silhouetten erinnern an einen riesigen Schwarm langsamer Insekten, die aufgeweckt wurden, weil man den Stein, unter dem sie lagen, wegnahm. Ihre gewaltige Anzahl scheint allen Regeln der Vernunft zu widersprechen.
»Nichts wie weg hier!«, presst Nick hervor.
Philip, stoisch und noch immer still, klammert sich weiterhin ans Lenkrad.
Nick wirft einen nervösen Blick nach hinten. »Wir müssen zurück!«
»Er hat recht, Philip«, sagt Brian und legt eine Hand auf Pennys Schulter.
»Was hast du vor?«, fragt Nick und sieht Philip an. »Warum drehst du nicht um?«
Brian starrt auf den Nacken seines Bruders. »Philip, das sind zu viele. Viel zu viele.«
»Um Gottes willen, wir sind im Arsch … Wir sind im Arsch!«, stottert Nick, der von dem atemberaubenden Hindernis, das sich ihnen in den Weg stellt, wie gelähmt wirkt. Die Untoten sind kaum einen halben Häuserblock entfernt und scheinen wie die erste Welle eines Tsunamis zu sein. Es sind Büroangestellte, Männer und Frauen, noch immer in Nadelstreifenanzügen und Kostümen. Doch die Kleidung hängt nur noch in Fetzen von ihnen herab, als ob sie sich gegenseitig angebissen und durch Wagenschmiere gezogen hätten. Sie stolpern umher wie seltsam aufgebrachte Schlafwandler.
Hinter ihnen drängen sich einen Häuserblock nach dem anderen unzählige weitere Zombies auf den Bürgersteigen und der Straße. Falls es Stoßzeiten in der Hölle gibt, dann können sie diesem Schauspiel ganz bestimmt nicht das Wasser reichen. Die dissonante Symphonie aus Jammern und Stöhnen Hunderttausender Untoter, die durch die Entlüftungsschlitze und Fenster des Escalade dringt, stellt Brian die Nackenhaare auf. Er lehnt sich nach vorne, um seinem Bruder vorsichtig auf die Schulter zu klopfen. »Philip, die Stadt ist verloren.«
»So ist es. Erledigt. Wir müssen sofort umdrehen«, drängt Nick panisch.
»Einen Augenblick«, erklärt Philip mit kalter Stimme. »Wartet noch.«
»Philip, lass das«, ermahnt ihn Brian. »Die Stadt gehört den Zombies.«
»Ich habe gesagt, dass wir noch etwas warten!«
Brian starrt erneut auf den Nacken seines Bruders, und ihm läuft es kalt den Rücken hinunter. Jetzt weiß er, was Philip vorhat. ›Einen Augenblick‹ bedeutet nicht ›Wartet mal kurz, während ich überlege‹ oder ›Mir kommt gleich die zündende Idee‹.
Was Philip Blake mit ›Einen Augenblick‹ meint, ist …
»Seid ihr alle angeschnallt?«, fragt Philip eher rhetorisch. Brian wird es erneut eiskalt.
»Philip, bitte …«
Aber Philip hört nicht auf ihn, sondern tritt aufs Gaspedal. Der Escalade explodiert förmlich, als er losschießt. Philip steuert schnurstracks auf den wimmelnden Mob zu. Brian verschlägt es einen Moment lang die Sprache.
»PHILLY! NEIN!«
Nicks Schrei wird von Aufprallgeräuschen übertönt. Als ob ein Riese unentwegt auf eine gewaltige Trommel schlagen würde, fegt der Escalade über den Bürgersteig und zerfetzt dabei mindestens drei Dutzend Untote in Stücke.
Gewebe und Blut regnen auf das Auto nieder.
Brian ist so geschockt, dass er sich auf den Boden wirft und gemeinsam mit Penny den Ort namens Weg aufsucht.
Die kleineren Zombies stellen kein großes Hindernis dar. Sie sind eher wie Schießbudenfiguren. Sie zerplatzen unter dem Gewicht der Reifen und hinterlassen lediglich eine Spur verwesender Innereien. Die Größeren aber prallen von den Kotflügeln ab und fliegen durch die Luft, bis sie gegen Gebäude klatschen und wie überreife Früchte platzen.
Die Toten scheinen lernresistent zu sein. Selbst eine Motte flattert davon, sobald sie einmal der Flamme zu nahe gekommen ist. Aber dieser gewaltige Verband herumwandelnder Leichen in Atlanta hat offensichtlich nicht den geringsten Schimmer, warum man das glänzende schwarze Etwas, das auf sie zurast, nicht fressen kann – das gleiche schwarze Etwas, das ihre Kumpanen Sekunden zuvor in Brei verwandelt hat. Sie kommen weiterhin und denken nicht einmal daran, innezuhalten oder die Richtung zu ändern.
Philip ist über das Lenkrad gebeugt. Die Knöchel weiß vor Anstrengung, betätigt er immer wieder die Scheibenwischer, damit die Windschutzscheibe nicht völlig verschmutzt und er noch sehen kann, wohin er das Auto lenkt. Mit einer Geschwindigkeit zwischen fünfzig und achtzig Kilometer die Stunde pflügt er den Weg zur Innenstadt frei.
Manchmal schlägt er eine Schneise durch die dichte Menge, dass man meinen könnte, sie befänden sich in einem Wald voll blutender Früchte. Die herumfliegenden Arme und Finger gleichen Ästen, die sich an den Seiten des Escalade verklemmen. Es gibt auch freie Straßenabschnitte, auf denen der SUV lediglich einige wenige Zombies auf den Bürgersteigen oder am Rande der Straße trifft und Philip richtig Gas geben kann, während er von einer Seite zur anderen kurvt, um jeden Untoten mitzunehmen, den er kriegen kann. Dann kommt plötzlich wieder eine Wand aus Kreaturen auf sie zu. Das macht ihm am meisten Spaß, denn nur so fliegen die Fetzen so richtig.
Er fährt um eine Kurve und rast in eine neue Wand von Untoten, die auf den Wagen zustolpern.
Das Merkwürdigste sind die sich wiederholenden Einschläge des gleichen Gewebes und der gleichen Organe. Manche sind zu erkennen, andere weniger. Eingeweide fliegen wahllos umher, landen auf der Windschutzscheibe und rutschen über die Motorhaube. Bruchstücke von Zähnen sammeln sich wiederholt in den Scheibenwischern, und etwas anderes, pinkfarbenes wie Fischrogen verfängt sich im Falz zwischen Kotflügel und Motorhaube.
Philip sieht ein totes Gesicht nach dem anderen. Jedes ist nur für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar, ehe es dem nächsten Platz macht. Er befindet sich jetzt in einer Zwischenzone – irgendwo anders, aber nicht hier, nicht im SUV, nicht hinter dem Steuer, sondern mitten im Mob, in der Stadt der Untoten. Er arbeitet sich durch ihre Reihen, verschlingt Unmengen von Monstern. Was sie können, kann Philip schon lange. Er ist das schlimmste Monster von allen, und er wird es durch dieses Meer von Grauen schaffen, selbst wenn das gesamte Universum daran glauben muss.
Brian weiß genau, was passiert. Dazu muss er nicht erst die Augen öffnen. Zehn quälende Minuten, nachdem sie angefangen haben, sich durch das Meer von Zombies zu kämpfen – immerhin dreiundzwanzig Häuserblocks weiter –, gerät der Escalade ins Schlingern.
Die Zentripetalkraft drückt Brian noch tiefer zu Boden. Er schafft es erst wieder, sich aufzurichten und einen Blick über den Vordersitz zu wagen, als der SUV seitwärts über unzählige Kadaver schlittert. Er hat keine Zeit, aufzuschreien, um die anderen zu warnen. Er kann sich und Penny lediglich so gut wie möglich festhalten und auf den unweigerlichen Aufprall warten.
Der Wagen, die Reifen schmierig vor Blut und Gewebe, dreht sich einmal um sich selbst. Das Heck befördert noch die letzten wandelnden Leichen in die Hölle. Draußen rast die Stadt an ihnen vorbei. Philip reißt am Lenkrad und versucht den Wagen unter Kontrolle zu bekommen, aber die Reifen schlingern auf einem Meer von Eingeweiden, Blut und glitschigen Organen.
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