Sie gleichen streunenden Wölfen, die sich vor Hunger kaum noch auf den Beinen halten können.
Philip fährt das Fenster herunter und lauscht. Der Wind pfeift. Es riecht merkwürdig – eine Mischung aus verbranntem Gummi, geschmolzenen Schaltkreisen und irgendetwas Öligem, etwas wie fauliger Talg. Von weit weg dringt ein Knattern und Tuckern zu ihnen, das die Luft wie ein gewaltiger Motor vibrieren lässt.
Brians Magen dreht sich beinahe um, als bei ihm der Groschen fällt: Wenn die Flüchtlingscamps irgendwo im Osten liegen, irgendwo in den Eingeweiden der Stadt, sollte es dann nicht hier bereits Streifenwagen und Einsatzfahrzeuge geben? Schilder? Kontrollpunkte? Bewaffnete Soldaten oder Polizisten? Polzeihubschrauber? Gäbe es nicht irgendeinen Hinweis darauf, dass sie Hilfe erwarten können? Doch während ihrer ganzen Fahrt in die Stadt sahen sie lediglich wenige unklare Hinweise, dass es noch anderes Leben geben könnte. In der Glenwood Avenue glaubten sie, dass ein Motorrad an ihnen vorbeigerauscht wäre, aber ganz sicher waren sie sich nicht. Später in der Sydney Street behauptete Nick, dass er jemanden gesehen hat, der von Tür zu Tür rannte, aber beschwören wollte er es nicht.
Brian verdrängt die negativen Gedanken, als er das gewaltige Gewirr von Autobahnkreuzen und Abzweigungen in Form eines Kleeblatts gute fünfhundert Meter vor sich liegen sieht.
Die riesige betonierte Fläche führt die Hauptverkehrsadern Atlantas zusammen und markiert das östliche Ende der Innenstadt. Hier treffen die Interstates 20, 85, 75 und 403 aufeinander. Jetzt brennt die fahle Sonne auf das Schlachtfeld, das mit Autowracks und umgekippten Kombis verstopft ist. Brian merkt, wie sich der Escalade eine steile Brücke hocharbeitet.
Capital Avenue thront auf riesigen Pfeilern über den Autobahnkreuzen. Philip geht vom Gas und schlängelt sich mit nicht einmal fünfundzwanzig Stundenkilometern durch die herumliegenden Wracks.
Brian spürt, dass etwas seine linke Schulter berührt. Es ist Penny, die ihn auf etwas aufmerksam machen will. Er dreht sich um und blickt sie fragend an.
Sie lehnt sich zu ihm hin und flüstert ihm etwas zu. Es klingt wie: »Ich muss sein machen.«
Brian ist verdutzt. »Du musst sein machen?«
Sie schüttelt den Kopf und flüstert es erneut.
Jetzt versteht Brian sie. »Ach so! Klein. Geht es noch eine Minute, Penny?«
Philip horcht auf und wirft den beiden einen Blick über den Rückspiegel zu. »Was ist los?«
»Sie muss mal.«
»Ach du meine Güte«, stöhnt Philip. »Tut mir leid, Schatz, aber das geht jetzt ganz schlecht. Halte bitte noch etwas durch, ja?«
Penny flüstert Brian zu, dass sie wirklich dringend mal muss.
»Philip, entweder jetzt oder es ist zu spät«, informiert Brian seinen Bruder.
»Versuch es dir zu verkneifen, Schatz.«
Sie kommen an den Scheitelpunkt der Brücke. Nachts, wenn man auf der Capital Avenue über Atlanta steht, muss der Anblick der Stadt majestätisch sein. In etwa hundert Metern wird der Escalade aus dem Schatten eines großen Gebäudes tauchen. Nachts leuchten die angestrahlten Gebäude der Stadt auf und geben ein atemberaubendes Panorama mit der Kuppel des Kapitols im Vordergrund ab, eingerahmt von der funkelnden Kathedrale aus Wolkenkratzern.
Dann tauchen sie aus dem Schatten des Gebäudes auf und erblicken die vor ihnen liegende Stadt in ihrer ganzen Pracht. Philip macht eine Vollbremsung.
Der Escalade kommt abrupt zum Stehen.
Einen unendlich langen Augenblick sitzen sie wie gelähmt da.
Die linke Straße führt an der marmornen Fassade des altehrwürdigen Kapitols vorbei. Es ist eine Einbahnstraße, die mit verlassenen Autos vollgestopft ist. Doch deshalb sind sie nicht wie vom Blitz getroffen. Es ist vielmehr das, was auf der Capitol Avenue von Norden her auf sie zukommt.
Penny macht in die Hose.
Das Empfangskomitee, zahlreich wie eine römische Armee und planlos wie eine Herde gigantischer Arachnoiden, stolpert vom Martin Luther King Drive auf sie zu. Es ist noch einen guten Häuserblock entfernt. Die Zombies kommen aus dem Schatten der Regierungsgebäude. Es sind so viele, dass es eine Weile dauert, bis die vier das wahre Ausmaß wahrzunehmen vermögen. Jedes Stadium der Verwesung ist vertreten. Sie kriechen aus Häusern, Türen, Fenstern, Gassen, begrünten Parks – aus allen Ecken und Winkeln. Die gesamte Straße ist überfüllt. Die Welle rollt wie ein durchgedrehter Spielzeugzug auf sie zu, angelockt von dem Geräusch des Autos, dem Geruch und der Tatsache, dass Frischfleisch auf sie wartet.
Alt und Jung, Schwarz und Weiß, Männer und Frauen, ehemalige Geschäftsleute, Hausfrauen, Beamte, Zuhälter, Kinder, Verbrecher, Lehrer, Anwälte, Krankenpfleger, Polizisten, Müllmänner und Prostituierte. Jedes Gesicht faulig und zersetzt – wie die in der Sonne verrottenden Früchte einer Obstplantage. Tausende von leblosen, metallisch wirkenden Augen richten sich wie eine Einheit auf den Escalade, Tausende von wild gewordenen Ortungssystemen aus der Urzeit starren hungrig auf die Neuankömmlinge.
Während dieses Augenblicks des totalen Horrors und der Stille wird Philip blitzschnell einiges klar.
Er merkt, dass der verräterische Gestank der Horde durch das offene Fenster, vielleicht sogar durch das Ventilationssystem der Klimaanlage eindringt – dieser widerliche, nach ranzigem Speck und Scheiße stinkende Geruch. Schlimmer noch: Er merkt, dass das merkwürdige Geräusch, das dumpfe Dröhnen, das sie zuvor gehört haben, als er das Fenster herunterließ – das vibrierende Surren in der Luft, als ob eine Million Hochspannungsleitungen unter voller Belastung stünden –, das Geräusch einer Stadt voller Toter gewesen ist.
Ihr kollektives Gestöhne, wie sie jetzt gleich einem einzigen gigantischen Lebewesen auf den Escalade zuströmen, lässt Philip erschauern.
Das alles bringt Philip Blake zu einer Erkenntnis, die ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers trifft. Bei dem Anblick der beinahe träumerisch langsamen Bewegungen der Zombies fällt bei ihm der Groschen: Ihr Vorhaben, ein Flüchtlingscamp in dieser Stadt aufzusuchen, scheint auf einmal so vernünftig zu sein, wie beispielsweise eine Stecknadel in einer Kloake zu suchen.
In diesem Sekundenbruchteil des Horrors, in diesem Moment eingefrorener Stille weiß Philip, dass morgen wohl kaum die Sonne aufgehen wird, die Waisenkinder Waisenkinder bleiben und die Guten diesmal nicht gewinnen.
Ehe er am Schalthebel reißt, wendet er sich zu den anderen um und verkündet mit einer Stimme, die voll Bitterkeit klingt. »Alle, die noch immer das Flüchtlingslager suchen wollen, heben die Hand.«
Wer mit Ungeheuern kämpft,
mag zusehen, dass er nicht dabei
zum Ungeheuer wird.
Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Friedrich Nietzsche

Wenige Autos – zumindest die aus den USA – fahren schnell rückwärts. Zuallererst ist da das Problem mit der Umsetzung. Die meisten Wagen, die von der Fertigungsstraße rollen, ganz gleich ob Van, SUV, Kombi oder Sportler, sind mit fünf oder sechs Vorwärtsgängen, aber nur einem Rückwärtsgang ausgestattet. Zweitens ist die Federung einzig und allein auf das Vorwärts- und nicht das Rückwärtsfahren ausgerichtet. Das bedeutet, dass es dem Fahrer unmöglich gemacht wird, mit Geschwindigkeit rückwärtszupreschen. Und drittens muss man beim Rückwärtsfahren über die Schulter schauen und gleichzeitig lenken. Sollte man es trotzdem schaffen, mit Schwung nach hinten zu fahren, so endet dies meistens mit spektakulären Missgeschicken.
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