Sie bringt ein müdes Lächeln zustande. »Ich werde schon genug schlafen, wenn ich tot bin.« Sie zuckt zusammen, starrt erneut zu Boden. Die Tränen brennen in ihren Augen. »Das Merkwürdigste ist, dass ich ihn kaum gekannt habe.«
»Er scheint ein guter Mann gewesen zu sein.«
Sie schaut ihn an. »Aber, ist so etwas denn überhaupt noch möglich?«
»Was denn?«
»Gut zu sein.«
Der Arzt seufzt: »Wahrscheinlich nicht.«
Lilly schluckt und konzentriert sich wieder auf den Boden zu ihren Füßen. »Ich muss hier weg.« Sie spürt, wie sich das Schluchzen erneut in ihr aufbaut. »Ich werde damit einfach nicht mehr fertig.«
»Willkommen im Club.«
Eine unbehagliche Stille.
Lilly reibt sich die Augen, fragt dann: »Wie schaffen Sie es denn?«
»Wie schaffe ich was?«
»Hierzubleiben … Diese ganze Misere über sich ergehen zu lassen. Sie machen den Eindruck, als ob Sie noch einigermaßen normal sind.«
Der Arzt zuckt die Schultern. »Manchmal trügt der Schein. Aber wie auch immer … Ich bleibe aus dem gleichen Grund wie die anderen auch.«
»Und der soll sein?«
»Angst.«
Lilly zählt die Pflastersteine, sagt kein Wort. Was gibt es auch zu sagen? Die Fackeln von der anderen Straßenseite nähern sich dem Ende, die Dochte sind aufgebraucht. Die Schatten vertiefen sich zwischen den Gebäuden. Lilly kämpft gegen einen Schwindelanfall an, der droht, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie will nie wieder schlafen, nie wieder.
»Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie kommen«, gibt der Arzt zu bedenken und nickt in Richtung Arena. »Sobald sie genug von der kleinen Horrorshow haben, die Blake für sie aufgetischt hat.«
Lilly schüttelt mit dem Kopf. »Das hier ist ein Irrenhaus, und der Typ, dieser Governor, ist der Krankeste von allen.«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Lilly«, fährt Stevens fort und deutet in die andere Richtung. »Warum machen wir nicht einen kleinen Spaziergang … Weg von der Menschenmenge.«
Sie atmet gequält aus, zuckt dann die Achseln und murmelt: »Wie auch immer …«
In jener Nacht laufen Dr. Stevens und Lilly über eine Stunde lang durch die kalte, erfrischende Luft, gehen mehrmals an der Barrikade im Osten der Stadt entlang, ehe sie den stillgelegten Schienen folgen, aber nur innerhalb der Sicherheitszone. Während sie spazieren und sich unterhalten, verliert sich die Meute, verschwindet in ihren Häusern und Wohnungen, die Blutlust ist vorerst gestillt. Der Arzt ist es, der die meiste Zeit erzählt in jener Nacht, stets mit gedämpfter Stimme, denn die Wachen mit ihren Maschinengewehren, Ferngläsern und Handsprechfunkgeräten sind überall entlang der Barrikade an strategischen Orten positioniert.
Sie halten ständigen Kontakt mit Martinez, der seine Männer extra darauf hingewiesen hat, insbesondere bei den Schwachstellen der Mauer und vor allem im Süden und im Westen Vorsicht walten zu lassen. Martinez macht sich Sorgen, dass der Lärm der Spiele mit den Gladiatoren die Zombies anlocken könnte.
Auf ihrem Spaziergang belehrt Stevens Lilly über die Gefahr, sich mit dem Governor anzulegen. Steven gibt ihr zu verstehen, dass sie ihr Mundwerk unter Kontrolle halten muss, und er benutzt Redewendungen und Analogien, die Lilly ganz schwindlig werden lassen – von Kaiser Augustus über diverse Beduinenherrscher aller Jahrhunderte und darüber, wie die widrigen Umstände in einer Wüste stets brutale Regime, Coups und blutige Aufstände hervorgebracht haben.
Schließlich kommt Stevens auf die grässlichen Tatsachen der Zombie-Plage zu sprechen und gibt zu bedenken, dass blutrünstige Anführer wohl ein notwendiges Übel in diesen Zeiten und somit überlebenswichtig sind.
»So will ich aber nicht leben«, erwidert Lilly, als sie langsam durch eine Allee kahler Bäume gehen. Der Wind weht ihnen einen leichten Schneeregen ins Gesicht, der die Haut in ihren Gesichter brennen lässt. Es sind nur noch zwölf Tage bis Weihnachten – aber das merkt hier niemand.
»Da hat man keine Wahl, Lilly«, murmelt der Arzt mit gesenktem Kopf. Er hat den Schal über das Kinn gezogen und starrt weiter auf den Boden.
»Man hat immer eine Wahl.«
»Glauben Sie das? Da wäre ich mir nicht so sicher, Lilly.« Sie gehen stillschweigend weiter. Der Arzt schüttelt den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Sie blickt ihn an. »Josh Hamilton ist nie zu einem schlechten Menschen geworden. Mein Vater hat sein Leben für mich geopfert.« Lilly holt tief Luft, versucht, gegen die Tränen anzukämpfen. »Das ist doch nur eine Ausrede. Man wird böse geboren. Die ganze Scheiße, die uns hier gerade um die Ohren fliegt … Das ist doch nur ein Auslöser, bringt das wahre Ich in jedem zum Vorschein.«
»Dann möge Gott uns helfen«, raunt der Arzt mehr zu sich selber als zu Lilly.
Am nächsten Tag wird Josh Lee Hamilton unter stahlgrauem Himmel von einer kleinen Gruppe Trauernder in einem behelfsmäßigen Sarg begraben. Lilly, Bob, Stevens, Alice und Megan sowie Calvin Deets, einer der Arbeiter, der sich während der letzten Wochen mit Josh angefreundet hat, sind anwesend.
Deets ist schon etwas älter, ein abgemagerter Kettenraucher, der deshalb schon an fortgeschrittener Lungenaufblähung leidet. Sein Gesicht gleicht einer alten Satteltasche, die man in der Sonne liegen gelassen hat. Ehrerbietig steht er in der hinteren Reihe hinter Joshs engeren Freunden. In den schwieligen Händen hält er seine Baseballmütze. Lilly ergreift das Wort.
»Josh ist in einem religiösem Umfeld, einer religiösen Familie aufgewachsen«, beginnt sie mit gebeugtem Haupt und kann vor Rührung kaum sprechen. Es ist, als ob sie mit dem gefrorenen Grund am Rande des Spielplatzes spricht, auf dem sie steht. »Er hat geglaubt, dass wir im Tod alle an einen besseren Ort kommen werden.«
Der Platz zeigt eine Reihe weiterer frischer Gräber auf. Einige sind mit handgearbeiteten Kreuzen oder sorgfältig aufgeschichteten, polierten Steinen versehen. Die Erde auf Joshs Grab ragt einen guten Meter über den Boden. Sie haben seinen Leichnam in die Überreste eines Pianos stecken müssen, das Deets in einem Lager gefunden hat. Es war der einzige Container, der groß genug für den toten Giganten war, und Bob und Deets haben viele Stunden damit verbracht, das Loch in den gefrorenen Boden zu graben.
»Hoffen wir also, dass es Josh gut geht, denn …« Lillys Stimme will nicht mehr. Sie kriegt keinen Ton mehr heraus. Sie schließt die Augen, und Tränen kullern ihr die Wangen hinab. Bob geht auf sie zu, legt einen Arm um sie. Lilly schluchzt, erbebt am ganzen Körper. Sie kann nicht weitermachen.
Bob ergreift das Wort: »Im Namen des Vaters … des Sohnes … und des Heiligen Geistes. Amen.« Die anderen wiederholen die letzten Worte. Niemand macht Anstalten, das Grab verlassen zu wollen. Der Wind fegt über den Spielplatz und weht feinen, trockenen Schnee über den Boden und in ihre Gesichter.
Bob versucht, Lilly behutsam vom Grab zu drängen. »Los, Kleines … Ab in die Wärme mit dir.«
Lilly wehrt sich kaum, schlurft neben Bob her, als die anderen sich still mit gesenkten Köpfen und niedergeschlagenen Mienen abwenden. Einen Moment lang hat es den Anschein, als ob Megan hinter Lilly her eilen, ihr vielleicht ein paar tröstende Worte sagen will. Sie trägt eine abgewetzte Lederjacke, die ihr wohl irgendein Freier im drogengeschwängerten Liebesrausch überlassen hat. Aber Megan mit ihren Korkenzieherlocken und grünen Augen seufzt nur gequält und hält Abstand.
Stevens nickt Alice zu; die beiden biegen in die Seitenstraße in Richtung Arena ein, und jeder schlägt den Kragen gegen den Wind nach oben. Sie haben den halben Weg hinter sich gebracht, weit genug, um von den anderen nicht mehr gehört zu werden, als Alice Stevens fragt: »Haben Sie es auch gerochen?«
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