»Bitte, kommen Sie rein.« Ira trat zur Seite und hielt mir die Tür auf.
Ich stampfte mit den Füßen auf, schüttelte den Schnee ab und ging hinein. Ira schloss die Tür hinter mir.
Die Einrichtung erinnerte an ein Museum. An den Wänden hingen riesige Lithografien von Gebäuden aus dem alten Rom und mediterranen Grotten, zur See fahrenden Schiffen und zahllosen Szenen aus Landschaften in Europa, die kostspielig in ihren Messingrahmen wirkten. Die ganzen Möbel sahen ausnahmslos neu oder unberührt aus, wie auf Fotos in einem Katalog. Der Orientteppich war dick wie eine Matratze, resistent gegen Abdrücke von Schuhen, wenn man darüber lief. Ich schaute von der hübsch ummauerten Feuerstelle hin zu Bücherregalen hinter Glas, auf denen zahlreiche in Leder gebundene Bücher standen. Ihre Rücken reihten sich makellos aneinander. Es roch nach Mahagoni, gespitzten Bleistiften und erinnerte an den Geruch alter Zigarren wie im Versammlungssaal einer traditionsreichen Bruderschaft.
So sieht es nur bei Leuten aus, die keine Kinder haben, sagte mir eine Stimme aus dem Hinterkopf, die sehr deutlich nach Jodie klang.
»Wow«, sagte ich. »Schön haben Sie es hier.«
Ein weißer Malteser, der vor dem Kamin auf einem Polsterhocker aus Satin saß, hob den Kopf und musterte mich mit triefenden schwarzen Augen. Im Hintergrund kratzte und ächzte ein alter Victor-Victrola-Plattenspieler, als eine Orchesternummer endete und eine andere anfing.
Ira begab sich an einen prachtvoll gefertigten Getränkeschrank, neben dem gläserne Schiebetüren auf die Terrasse hinterm Haus führten. Nachdem er den Pinot geöffnet hatte, füllte er zwei Gläser mit der blutroten Flüssigkeit. Eines überreichte er mir, dann bot er mir einen Platz auf dem mit Knöpfen aus Messing bestückten Fauteuil. Er ließ sich mir gegenüber in einem ähnlichen Sessel vor dem Feuer nieder.
Der Malteser beäugte mich nach wie vor. Wie ein flauschig weißer Pascha sah er aus, während er die Augenbrauen mehrmals hochzog und wieder entspannte.
Nancys Stimme hallte durch den Flur. Sie rief den Namen ihres Gatten.
»Wir sind hier.«
Sie erschien in der Tür, noch genauso fragil, wie ich sie von der Weihnachtsparty her in Erinnerung hatte. Über der braunen Cordhose trug sie einen Pullover, der dem ihres Mannes aufs Haar glich. Der Malteser fing zu winseln an, woraufhin sie ihm husch zuraunte, und er solle ein braver kleiner Fauntleroy sein, husch jetzt, husch.
»Du erinnerst dich bestimmt noch an Mr. Glasgow von nebenan, Liebes?«
Nancy nickte mir distanziert und ohne Lächeln zu. Ich bemerkte Audubon-Kunstdrucke hinter ihr an der Wand. »Mr. Glasgow.«
»Bitte«, sagte ich, »nennen Sie mich Travis.«
»Ich lernte Ihre Frau auf der Weihnachtsparty kennen. Eine reizende Frau.«
»Ja, ist sie, und ich halte sie gehörig auf Trab.« Natürlich war das ein Witz, doch Nancy schien keinen Sinn für Humor zu besitzen.
»Er hat uns Wein mitgebracht«, ließ Ira sie wissen, was sich so ungewöhnlich leutselig anhörte, dass ich es auf möglichen Alkoholismus zurückführte. »Ich könnte dir ein Glas einschenken.«
»Nicht vor dem Abendessen«, sagte sie förmlich. »Ich lasse euch Männer mal allein.« Damit drehte sie sich um und ging den Flur hinunter.
»Ahhh«, seufzte Ira, mit dem Kopf gegen die Rückenlehne lehnend, während der Plattenspieler zum nächsten Stück überging. Ich war mir nicht sicher, aber es klang wie eine Nummer von Duke Ellington. »Wunderbare Musik, was?«
Ich schaute zur Terrassentür hinaus, wo die gefrorene Oberfläche des Sees zwischen den kahlen Zweigen der Bäume schimmerte. An der Wand neben der Scheibe hing eine große Kanadagans, die die Schwingen ausgebreitet hatte und so aussah, als fliege sie aus dem Holzschild, an dem sie befestigt war.
Ira dachte wohl, dass ich die Gans bewunderte, weil er fragte: »Gehen Sie jagen?«
»Nicht wirklich.« Dabei dachte ich an die toten Vögel, die ich im vergangenen Monat in dem Schuhkarton entdeckt hatte.
»Die erlegte ich im vorletzten Sommer an der Ostküste«, bemerkte er, indem er die Gans über die Schulter hinweg ansah. Sie starrte unbeeindruckt zurück. »Als kleiner Junge ging ich ständig mit meinem Vater zur Jagd. Heute komme ich kaum noch raus. Die Gicht, sie verstehen? Nehme mir aber vor, wenigstens einmal in der Saison loszuziehen.« Er beäugte sein Glas. »Ein guter Tropfen.«
Es war ein billiger Tafelwein und deshalb vermutlich weit weniger erlesen als das, was er gewöhnlich zu sich nahm, aber nach dieser Bemerkung sah ich mich in dem, was ich vermutet hatte, bestätigt: Ira Stein war Alkoholiker.
»Ich gebe zu, mit einem Hintergedanken hergekommen zu sein«, gestand ich, nachdem Ira uns wieder eingegossen und das Vinyl gewechselt hatte.
»Der wäre?«
»Ich schreibe gerade ein Buch über verschiedene Kleinstädte, insbesondere von Westlake.« Mit der Tür ins Haus fallen und direkt auf die Dentmans zu sprechen kommen wollte ich nicht, also versuchte ich diesen Umweg. Vielleicht gelang es mir, das Thema auf diese Weise zur Sprache zu bringen, ohne allzu offensichtlichen Übereifer durchblicken zu lassen. »Soweit ich weiß, leben Sie und Nancy schon viele Jahre hier.«
»Fast fünfundzwanzig Jahre, ja. Wir waren eines der ersten Paare im Ort. Wir zogen aus Pennsylvania her, nachdem ich einen Posten an der Universität erhalten hatte. Englische Literatur.« Ira verwies mit einer Armbewegung auf die Feuerstelle und die Schränke daneben. »Ich weiß noch, dass es in der Straße nur zwei Häuser gab und alles außer der Hauptstraße aus Wald bestand.«
»Dann waren das wohl Ihr Haus und das der Dentmans?« Es war eine logische Schlussfolgerung: Alle weiteren Anwesen befanden sich auf der anderen Straßenseite und glichen wie eine Tortenecke der anderen. Nur unser Haus und das der Steins besaßen eine eigenständige Architektur.
»Damals verstand man noch das Handwerk und baute solide Häuser. Nicht so wie diese Kartenhäuser heutzutage.« Er senkte die Stimme und schaute mich an wie einen Komplizen, mit dem er einen Bankraub plante. »Zwischen meinem und Ihrem Grundstück erstreckt sich eine größere Fläche, als alle anderen Bewohner dieser Straße zusammen besitzen. Haben Sie sich das schon genauer angesehen? Sie sind dort zusammengepfercht, um Himmels willen! Sie können dort nicht mal scheißen gehen, ohne dass der Nachbar am Gestank erstickt.«
»Ira«, schalt Nancy, die wieder hinter uns aufgetaucht war. »Himmel.« Sie schüttelte den Kopf, bis sie in die Küche ging, was ich anhand klappernder Töpfe und Pfannen vermutete.
»Es stimmt aber«, schloss er. Sein Ton klang wieder gefestigt. Dann wurde er noch lauter. »Nan? Kannst du uns das Album bringen? Nan!«
»Du brauchst nicht gleich zu brüllen«, rief sie zurück. »Was gibt‘s denn?«
»Der junge Mann will etwas über die Geschichte der Stadt wissen. Wo ist das Album?«
»Wirklich«, begann ich. »Das ist jetzt nicht nötig.«
»Liegt im Hocker«, antwortete Nancy.
»Dann mal los.« Ira erhob sich und ging hinüber, wo sich das weiße Bündel genötigt sah, seinen possierlichen Leib aus dem Weg zu hieven. »Auf, auf!«, rief Ira dem Hund zu und klatschte in die Hände.
»Schrei den Hund nicht an.«
»Auf!«
Entrüstet beziehungsweise rührseliger, als ich es von einem Hündchen erwartet hätte, schaute der Malteser Ira Stein an und sprang auf den Teppich. Vor dem Feuer kauerte es sich zusammen.
Ira klappte den Sitz auf und wühlte im Inneren herum, bevor er ein Fotoalbum mit Kunststoffeinband herauszog, das er mir ohne Aufhebens in den Schoß warf, bevor er sich wieder niederließ.
»Was ist das?«, fragte ich beim Aufschlagen. Die Zwischenfolien hafteten an den Seiten.
»Alte Bilder aus der Zeit kurz nach unserem Einzug.«
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