In einem anderen Traum zitterte ich vor Nässe. Ein Handtuch lag wie ein Umhang auf meinen Schultern, und Detective Wren fragte mich, was in jener Nacht am Fluss geschehen sei. Hinter ihm kroch langsam die Sonne am Horizont herauf, während weitere uniformierte Police Officers die Waldwege patrouillierten und das Gebiet mit gelbem Band absperrten. Ich hörte die Motoren ihrer Boote an der Anlegestelle und roch den Diesel, den ihre Auspuffrohre in die Bucht pusteten.
Plötzlich trug Detective Wren eine Riesenlast von Büchern auf den Armen. Er warf sie auf einen Tisch, der augenblicklich vor uns auftauchte, denn wir befanden uns in einem Verhörraum mit grün fluoreszierenden, summenden Lampen und farblosen Betonwänden.
»Sind das deine Bücher?«, fragte er. »Hast du sie geschrieben?«
Ich nickte.
»Wie bist du darauf gekommen?«
Ich antwortete, dass ich es nicht wüsste.
»Alles, was du darin beschrieben hast, ist gestern am Fluss passiert.« Der Detective war ein Riesenkerl mit öliger Haut und scharfem bis in die Seele dringenden Blick. »Alles, Junge, ist so passiert, wie es auf diesen Seiten steht.« Detective Wren fuhr fort, weshalb ich vermutete, alles sei von langer Hand geplant.
Ich schluchzte und beharrte darauf, es nicht absichtlich getan zu haben.
Wren schaute mich verächtlich an, ehe seine Gesichtsmuskeln erschlafften. Er verfärbte sich dunkelrot, die Augen traten hervor und richteten sich an den Seiten seines rasch schmaler werdenden Schädels aus. Die Arme zogen sich ins zerknitterte Hemd zurück, und die Hose schlackerte an seiner Taille, bis sie schlicht auf den Boden rutschte. Was dann vor mir lag, waren mitnichten Beine, sondern der gewundene Körper eines Aals. Entsetzt schaute ich zu, wie Detective Wren als enorm großer Fisch aus seinem Anzug schlüpfte und über den schlammigen Uferhügel kroch, ehe er in den dunklen Fluss platschte. Dann zeigte sich eine Rückenflosse ähnlich der eines Hais, und er schwamm im Zickzack durch die schwarzen Fluten davon.
Zuletzt stierte mich David Dentman an, der meinen Kopf mit einer Hand immer wieder seitlich gegen die Treppe im See schlug.
Ich erwachte völlig verschwitzt und mit rauem Hals. Jodie strich mir mit kühler Hand das Haar von der Stirn. Am Horizont glühte die untergehende Sonne, dass es durchs Schlafzimmerfenster aussah, als stünden die Baumwipfel in Flammen. Ich schaute zum Straßenrand, wo auf einmal Jodie mit Beth im Schnee schwatzte. Ich verkrampfte innerlich; die kalten Finger ließen von mir ab, ehe ich schreien konnte.
Träume …
Der nächste Traum führte mich an eine Burg aus Pappkartons und Bootsstege, die sich zu einer Leiter geradewegs in den Himmel türmten. Schließlich heiratete ich eine Frau, die mit einem Monster schwanger war. Ich hieß Alan und lebte mit ihr an einem anderen See irgendwo im Land. Ein imaginärer Sommer brannte auf meinem Rücken und den Schultern, was mir sehr real vorkam, obwohl ich wusste, dass ich es mir nur zusammenspann. Mein Shirt klebte am Oberkörper, die Haut verkohlte und zischte vor Hitze. Konfuse Fieberträume.
In einem anderen Traum kroch ich aus dem Bett und schwebte über den Flur. Unten hörte ich jemanden sprechen, unwirklich nur, wie ein Phantom. Als ich mich über den Treppenabsatz bewegte, hielt ich mich mit beiden Händen am Geländer fest und schaute hinunter. Dort wich ein Schatten an die Wand zurück, also drehte ich mich um und glitt über die Stufen auf die Diele. Die Stimme wurde ein wenig lauter, da wusste ich intuitiv, dass es Jodie war, die da redete.
Während es mich ins Wohnzimmer zurückzog, kam ich mir einmal mehr vor wie im halluzinogenen Wahn, und dies wiederum trotz des Bewusstseins, dass ich träumte. Meine Füße streiften den Teppich allenthalben, und mein Kopf kam einem Heliumballon gleich. Ein brutaler Wind peitschte im Wohnzimmer und blies die Gardinen durch die geöffneten Fenster in den Vorgarten hinaus, wobei ich mich kurz fragte, woher er überhaupt rührte. Von dort, wo ich innehielt, sah ich Jodie von hinten auf dem Sofa sitzen. Ich näherte mich, lauschte ihrer Worte … und realisierte, dass sie eigentlich nichts sagte, sondern leise und gefühlvoll sang, liebreizend und wohltönend. Meine Mutter hatte ähnliche Weisen geträllert, als ich noch klein war.
A, du bist liebenswert!
B, du bist so wunderschön.
C, du bist ein Kind voll Charme!
D, du bist so entzückend.
E, du bist so aufregend!
F, du bist eine Feder in meinen Armen …
Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ihre Stimme stockte. Dann starrte ich hinab auf ihren Schoß … wo kurz, kurz das Bild eines Jungen aufflackerte, den sie in ihren Armen wiegte, ehe es wieder erlosch.
»Wo ist er hin?«, fragte ich.
»Er wird wieder zurückkommen«, sprach Jodie leise und fing wieder zu summen an.
»War er …?«
»Ja«, antwortete sie. »War er.«
»Ich ahnte, es könne vielleicht sein.«
Ihr Säuseln entspannte.
»Du singst wunderschön«, sagte ich ihr.
Das brachte sie zum Lächeln. Ich spürte es, ohne es zu sehen.
»Danke.«
»Zu dumm, dass ich bloß träume«, bedauerte ich.
»Nein«, behauptete Jodie. »Tust du nicht.«
Wenn man dem Alltag entflieht, bemerkt man, dass sich die Welt ebenso zurückzieht. Alles, was am Ende übrig bleibt, ist graue Leere. Sie wuchert in einem wie eine Krebszelle, wie eine Probe kranken Gewebes in einer Petrischale. Man schaut in sich hinein und erkennt es, das klaffende, trübe Loch im Kern seiner selbst. Wenn man so starrt, sieht man sich irgendwann selbst zurückstarren.
Ich war du , sagte Jodie. Ist das nicht witzig?
Man gerät in Vergessenheit, wird von Luft ersetzt, von Molekülen und Partikeln elektrischen Lichts. Man wurde gelöscht, entfernt. Ein Geräusch, fast wie wenn etwas platzt, begleitet euer Verschwinden, wenn jene Teilchen die Stelle einnehmen, die ihr noch eine Millisekunde zuvor ausgefüllt habt. So decken sie Zeit und Raum ab, radieren jedwede Erinnerung an euer Leben als Mensch aus. Man existiert nicht mehr.
Ist das nicht witzig?
Im Zuge dieser Selbstisolation wird man sich der Tatsache bewusst, dass man nie wirklich da war – nie richtig auf der Welt gewesen ist, denn die Natur kennt kein Aussterben, also bedeutet das Verschwinden, dass man von vornherein nie gelebt hat.
Ins Land der Lebenden kehrte ich an einem Mittwoch zurück. Im Haus herrschte Stille, denn Jodie war am College. Ein weiterer Sturm hatte die Stadt heimgesucht und im Schnee begraben und die Kiefern in der Ferne sahen aus wie weiße Spitzhüte von Hexen.
Im Haus war es eiskalt, obwohl das Thermostat konstante zwanzig Grad verhieß, aber ich traute ihm längst nicht mehr. Meine Krankheit hatte mir arg zugesetzt und mein Kopf fühlte sich wie in Watte gepackt an, und der Geschmack auf meiner Zunge entsprach dem des Inhalts eines Aschenbechers, also begab ich mich in die Küche und setzte Kaffee auf.
Nach der zweiten Tasse ging es mir besser. Ich entschloss, den Steins einen Besuch abzustatten, um etwas über die Dentmans zu erfahren. Nach meinem Abstecher zu Veronica und David in West Cumberland am Sonntag war es für mich allzu offensichtlich, dass etwas mit dieser Familie ganz und gar nicht in Ordnung war. Die bizarre Charakterzeichnung der fiktiven Dentmans aus meinen Notizbüchern wurde der Wirklichkeit nicht einmal annähernd gerecht. Adam hatte mir alles, was er wusste, über sie erzählt, doch das genügte nicht. Als unmittelbare Nachbarn mussten die Steins viel vom Familienleben nebenan aufgeschnappt haben. Ich war begierig darauf, möglichst alles in Erfahrung zu bringen, sowohl für mein Buch als auch zur Befriedigung meiner wachsenden Neugierde.
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