»Duddits, Duddie, Schatz, was ist denn?«
Und da schrie er, als er so an ihrer Brust lag, und ließ sie alles vergessen, was sich möglicherweise oben in Jefferson Tract abspielte, jagte ihr einen kalten Schauer über die Kopfhaut und eine Gänsehaut über den ganzen Körper, »leba-od! leba-od! Q-Amma, leba-od!« Es war unnötig, ihn zu bitten, es zu wiederholen oder noch einmal deutlicher zu sagen; sie hatte ihm sein ganzes Leben lang zugehört und verstand ihn auf Anhieb:
Biber ist tot! Biber ist tot! O Mama, Biber ist tot!
Pete lag schreiend in der zugeschneiten Fahrspur, in die er gestürzt war, bis er nicht mehr schreien konnte, und dann lag er dort einfach nur noch eine Zeit lang und versuchte, mit dem Schmerz klarzukommen. Es gelang ihm nicht. Es waren erbarmungslose Schmerzen, Blitzkriegsqualen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass es solche Schmerzen überhaupt geben konnte - und hätte er es gewusst, dann wäre er bestimmt bei der Frau geblieben. Bei Marcy, nur dass sie gar nicht Marcy hieß. Ihr richtiger Name lag ihm fast auf der Zunge, aber was machte das schon? Er war es, der hier in Schwierigkeiten steckte. Der Schmerz stieg in glühend heißen, schrecklichen Krämpfen von seinem Knie auf.
Er lag zitternd auf der Straße, die Plastiktüte neben sich.
DANKE, DASS SIE BEI UNS EINGEKAUFT HABEN! Stand darauf.
Pete langte hinein und wollte sehen, ob vielleicht ein oder zwei Flaschen darin nicht zerbrochen waren, und als er sein Bein verlagerte, schössen ihm Todesqualen vom Knie durch den ganzen Körper. Verglichen damit waren die Schmerzen bisher nur ein leichtes Stechen gewesen. Pete schrie wieder auf und fiel in Ohnmacht.
Als er wieder zu sich kam, wusste er nicht, wie lange er weggetreten gewesen war - dem Licht nach nicht sehr lange, aber seine Füße waren gefühllos vor Kälte und seine Hände, trotz der Handschuhe, auch schon fast.
Pete lag auf der Seite, die Biertüte als eben zufrierende bernsteingelbe Pfütze neben sich. Der Schmerz in seinem Knie hatte ein wenig nachgelassen - wahrscheinlich wurde es auch schon vor Kälte gefühllos -, und ihm fiel auf, dass er wieder klar denken konnte. Das war gut, denn das war ja nun wirklich eine absolute Scheißsituation, in die er sich hier gebracht hatte. Er musste zurück zu dem Unterstand und dem Feuer, und das musste er alleine schaffen. Wenn er einfach hier liegen blieb und darauf wartete, dass Henry mit dem Schneemobil wiederkam, konnte er damit rechnen, Tiefkühlpete zu sein, wenn Henry dann kam - Tiefkühlpete mit einer Tüte voll geplatzter Bierflaschen neben sich, danke, dass Sie bei uns eingekauft haben, du Scheiß-Alki, herzlichen Dank auch. Und dann musste er auch noch an die Frau denken. Auch sie würde vielleicht sterben, und das nur, weil Pete Moore ja so dringend ein paar Bier hatte zischen müssen.
Er betrachtete die Tüte mit Widerwillen. Er konnte sie nicht in den Wald werfen; er konnte es nicht riskieren, sein Knie wieder aufzuwecken. Also schob er Schnee darüber, so wie ein Hund seinen Kot verscharrt, und krabbelte dann los.
Das Knie war anscheinend doch nicht so steif gefroren. Pete kroch mit den Ellenbogen voran und stieß sich mit seinem gesunden Fuß ab. Er biss die Zähne zusammen, und das Haar hing ihm in die Augen. Keine Tiere mehr; der Exodus war vorbei, und er war ganz allein - seine keuchenden Atemzüge und das gedämpfte, schmerzerfüllte Stöhnen, wenn er mit seinem Knie irgendwo anstieß. Er spürte den Schweiß über seine Arme und seinen Rücken laufen, aber seine Füße blieben gefühllos und seine Hände auch.
Er hätte vielleicht aufgegeben, aber auf der Hälfte des geraden Stücks erblickte er das Feuer, das er mit Henry entfacht hatte. Es war schon ziemlich heruntergebrannt, brannte aber immerhin noch. Pete kroch darauf zu, und jedes Mal, wenn er sich das Bein stieß und der Schmerz ihn durchfuhr, versuchte er ihn in die orangefarbenen Funken des Feuers zu projizieren. Dorthin wollte er. Es tat wirklich höllisch weh, sich zu bewegen, aber wie gern wollte er dorthin. Er wollte nicht hier im Schnee erfrieren.
»Ich schaff das schon, Becky«, murmelte er. »Ich schaff das schon, Becky.« Er sprach ihren Namen ein halbes Dutzend Mal aus, bis er merkte, dass er ihn kannte.
Während er so dem Feuer allmählich näher kam, hielt er kurz inne, schaute auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn. Laut seiner Uhr war es 11.40 Uhr, und das konnte nicht sein - er erinnerte sich, auf die Uhr gesehen zu haben, bevor er zum Scout aufgebrochen war, und da war es zwanzig nach zwölf gewesen. Ein zweiter Blick klärte die Ursache der Verwirrung: Seine Uhr lief rückwärts, der Sekundenzeiger drehte sich unregelmäßig zuckend gegen den Uhrzeigersinn. Pete sah sich das nicht sonderlich erstaunt an. Ihm war die Fähigkeit abhanden gekommen, sich noch über irgendwas zu wundern. Nicht einmal seinem Bein galt mehr seine Hauptsorge. Ihm war sehr kalt, und heftige Schauer überliefen ihn, während er sich mit den Ellenbogen vorankämpfte und sich mit seinem zusehends ermüdenden gesunden Bein abstieß und so die letzten fünfzig Meter zu dem erlöschenden Feuer zurücklegte.
Die Frau saß nicht mehr auf der Plane. Sie lag nun auf der anderen Seite des Feuers, als wäre sie zum Feuerholz gekrochen und dort zusammengebrochen.
»Hallo, Schatz, ich bin wieder da«, keuchte er. »Mein Knie hat ziemliche Zicken gemacht, aber jetzt bin ich wieder da. Das mit dem Scheiß-Knie ist sowieso deine Schuld, Becky, also beschwer dich nicht, j a ? Becky - so heißt du doch, oder ?«
Vielleicht schon, aber sie antwortete nicht. Lag einfach nur glotzend da. Er konnte immer nur eines ihrer Augen sehen, wusste aber nicht, ob es dasselbe war wie zuvor. Ihr Blick kam ihm nicht mehr so unheimlich vor, aber vielleicht lag das auch daran, dass er jetzt andere Sorgen hatte. Das Feuer zum Beispiel. Es flackerte zwar nur noch, hatte aber noch tüchtig Glut, und er kam wohl gerade noch rechtzeitig. Leg etwas Holz nach, Baby, schür es ordentlich und leg dich dann zu dieser Becky (aber bitte gegen den Wind, diese Knatterfürze waren wirklich schlimm). Warte ab, bis Henry wiederkommt. Wäre nicht das erste Mal, dass ihm Henry die Kastanien aus dem Feuer holte.
Pete krabbelte auf die Frau und den kleinen Holzhaufen hinter ihr zu, und als er ihr nahe kam — nahe genug, um wieder diesen ätherartigen chemischen Gestank wahrzunehmen -, verstand er, warum ihr Blick ihn nicht mehr störte. Dieser unheimliche Blick wie von einem Auto war erloschen. Wie die ganze Frau. Sie war halb ums Feuer herum gekrochen und dort gestorben. Die Schneeschicht auf ihrer Taille und Hüfte war dunkelrot.
Pete hielt einen Moment lang inne, auf seine schmerzenden Arme gestützt, und schaute sie an, aber er hatte an ihr, ob nun tot oder lebendig, nicht mehr Interesse als an seiner rückwärts gehenden Armbanduhr. Er wollte einzig und allein etwas Holz auf das Feuer legen und sich wärmen. Über die Frau konnte er immer noch nachdenken. Nächsten Monat vielleicht, wenn er mit einem Gipsverband ums Knie und einer Tasse heißen Kaffee bei sich zu Hause im Wohnzimmersaß.
Er schaffte es bis zum Holz. Nur noch vier Stücke waren übrig, aber es waren große Stücke. Henry würde bestimmt zurück sein, bevor sie niedergebrannt waren, und würde Nachschub sammeln, ehe er weiterfuhr, um Hilfe zu holen. Der gute alte Henry. Trug immer noch seine beknackte Hornbrille, und das im Zeitalter von weichen Kontaktlinsen und Laserchirurgie. Aber man konnte sich auf ihn verlassen.
Petes Gedanken wollten schon zum Scout zurückkehren, wie er da in den Wagen gekrochen war und Henrys Parfüm gerochen hatte, das Henry gar nicht getragen hatte, aber das ließ er nicht zu. Wir gehen da nicht hin, wie die Kinder immer sagten. Als wäre die Erinnerung ein Ort. Kein Geister-Parfüm mehr und keine Erinnerungen an Duddits. Kein Prall mehr und kein Spiel. Er hatte schon genug am Hals.
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