Vermisste Jäger und UFOs. Das hörte sich spannend an und war sicherlich gut genug für den Aufmacher bei Live um Sechs (»Vor Ort! Aktuell! Aus Ihrer Stadt und unserem Bundesstaat!«), aber da war noch mehr. Und es war schlimmer. Sicherlich bisher nur Gerüchte, und Roberta hoffte stark, sie würden sich als unzutreffend erweisen, aber sie waren doch so unheimlich, dass sie hier seit fast zwei Stunden schon vor dem Fernseher saß, zu viel Kaffee trank und immer ängstlicher und nervöser wurde.
Die unheimlichsten Gerüchte rankten sich um Berichte, dass etwas in den Wäldern abgestürzt sei, nicht weit von der Stelle entfernt, an der die Männer angeblich das zigarrenförmige Flugobjekt über der Stromleitung gesehen hatten. Beinahe ebenso beunruhigend waren Berichte, dass ein recht großer Teil des Aroostook County - gut zweihundert Quadratmeilen, die größtenteils im Besitz eines Papierherstellers und der Bundesregierung waren - unter Quarantäne gestellt worden sei.
Ein großer, blasser Mann mit tiefliegenden Augen sprach auf dem Stützpunkt der Air National Guard in Bangor kurz mit Reportern (er stand dabei vor einem Schild mit der Aufschrift home OF thé maniacs) und sagte, an den Gerüchten sei nichts dran, man würde allerdings »eine Reihe widersprüchlicher Berichte« überprüfen. In der eingeblendeten Textzeile stand einfach nur abraham kurtz. Roberta konnte nicht feststellen, welchen Dienstgrad er hatte und ob er überhaupt ein Militär war. Er trug nur einen schlichten grünen Overall mit Reißverschluss. Wenn ihm kalt war - und das hätte man vermutet, da er nichts weiter als diesen Overall trug -, dann ließ er es sich nicht anmerken. Es lag etwas in seinem Blick, in seinen Augen, die sehr groß und von weißen Wimpern umrahmt waren, das Roberta gar nicht gefiel. Ihr kamen sie wie die Augen eines Lügners vor.
»Können Sie wenigstens bestätigen, dass das abgestürzte Flugobjekt weder ausländischer noch ... noch außerirdischer Herkunft ist?«, fragte ein jung klingender Reporter.
»ET nach Hause telefonieren«, sagte Kurtz und lachte. Die meisten anderen Reporter lachten mit, und außer Roberta, die hier in ihrer Wohnung in West Derry Acres diesen Filmbeitrag sah, schien niemand zu bemerken, dass das überhaupt keine Antwort war.
»Können Sie bestätigen, dass die Gegend von Jefferson Tract nicht unter Quarantäne gestellt wurde?«, fragte ein anderer Reporter.
»Das kann ich gegenwärtig weder bestätigen noch dementieren«, sagte Kurtz. »Wir nehmen die Angelegenheit sehr ernst. Ihre Regierung tut heute mal wirklich was für Sie, meine Damen und Herren.« Dann ging er zu einem Hubschrauber, dessen Rotorblätter sich langsam drehten und auf dessen Seite in großen weißen Lettern ANG stand.
Dieser Beitrag war, sagte die Nachrichtensprecherin, um 9.45 Uhr aufgezeichnet worden. Der folgende Beitrag -wackliges Bildmaterial, aus der Hand mit einer Videokamera aufgenommen - war von einer Cessna aus gefilmt worden, die Channel Nine gechartert hatte, um Jefferson Tract damit zu überfliegen. Es hatte offenbar Turbulenzen gegeben und heftig geschneit, aber nicht genug, um die beiden Hubschrauber zu verbergen, die aufgetaucht waren und die Cessna rechts und links flankiert hatten wie riesige braune Libellen. Es hatte einen Funkspruch gegeben, der so unverständlich war, dass Roberta die Abschrift mitlesen musste, die in gelben Buchstaben am unteren Bildschirmrand eingeblendet wurde: »Sie befinden sich über Sperrgebiet Wir befehlen Ihnen, zu Ihrem Startflugplatz zurückzukehren. Ich wiederhole: Sie befinden sich über Sperrgebiet Drehen Sie ab.«
Bedeutete Sperrgebiet unweigerlich auch Quarantänegebiet? Roberta Cavell meinte schon, und dass Kerle wie dieser Kurtz das wohl bestreiten würden. Die Kennung an den beiden Hubschraubern war deutlich sichtbar: ANG. Einer davon hätte durchaus der sein können, in dem Abraham Kurtz nach Norden geflogen war.
Der Pilot der Cessna: »Wer hat bei diesem Einsatz die Befehlsgewalt; 1«
Funkspruch: »Kehren Sie um, Cessna, oder Sie werden zur Umkehr gezwungen. «
Die Cessna war umgekehrt. Sie habe sowieso nicht genug Treibstoff gehabt, sagte die Nachrichtensprecherin, als würde das irgendwas erklären. Seither hatten sie immer nur Wiederholungen gesendet und das als letzten Stand der Dinge bezeichnet. Die großen Sender hatten vermutlich schon Korrespondenten losgeschickt.
Sie stand eben auf, um den Fernseher abzuschalten - das Zusehen machte ihr allmählich Angst -, als Duddits schrie. Roberta blieb das Herz erst stehen, dann hämmerte es los. Sie wirbelte herum, stieß mit dem La-Z-Boy-Sessel, der Ai-fies Lieblingsplatz gewesen war und nun der ihre war, an den Tisch und kippte dabei ihre Kaffeetasse um. Der Kaffee ergoss sich über die Fernsehzeitschrift und ertränkte die Besetzungsliste der Sopranos in einer braunen Pfütze.
Dem Schrei folgten schrille, hysterische Schluchzer, die Schluchzer eines Kindes. Aber so war das mit Duddits: Er war jetzt Mitte dreißig, würde aber als Kind sterben, ehe er die Vierzig erreichte.
Für einen Augenblick konnte sie einfach nur dastehen. Schließlich setzte sie sich in Bewegung und wünschte sich, Alfie wäre da ... oder besser noch einer der Jungs. Die waren jetzt natürlich keine Jungs mehr; nur Duddits war immer noch ein Junge; das Downsyndrom hatte einen Peter Pan aus ihm gemacht, und bald würde er im Never-Never-Land sterben.
»Ich komme, Duddie!«, rief sie, und das tat sie dann auch, obwohl sie sich alt vorkam, als sie den Flur entlang zum hinteren Schlafzimmer eilte, das Herz ihr unstet an die Rippen pochte und Arthritis sie in der Hüfte kniff. Ihr stand kein Never-Never-Land bevor.
»Ich komme! Mami kommt!«
Schluchzend und noch mal schluchzend, als wäre sein Herz gebrochen. Er hatte zum ersten Mal aufgeschrien, als er mitbekommen hatte, dass sein Zahnfleisch blutete, nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, aber richtig geschrien hatte er nie, und es war Jahre her, dass er so geweint hatte, mit diesem hemmungslosen Schluchzen, das einem nicht mehr aus dem Kopf ging und einen schier wahnsinnig machte.
»Duddie, was ist denn?«
Sie platzte in sein Zimmer, schaute ihn mit großen Augen an und ging zunächst davon aus, dass er blutete, dass sie tatsächlich Blut sah. Aber da war nur Duddits, der in seinem hochgekurbelten Krankenhausbett vor und zurück schaukelte, die Wangen tränenüberströmt. Seine Augen zeigten noch dasselbe strahlende Grün, aber sonst war alle Farbe aus ihm gewichen. Sein Haar war auch verschwunden, das hübsche blonde Haar, das sie immer an den jungen Art Garfunkel erinnert hatte. Sein Schädel schimmerte im matten Winterlicht, das durchs Fenster drang und auch auf die Flaschen schien, die auf dem Nachttisch aufgereiht standen (Tabletten gegen Infektionen und Tabletten gegen Schmerzen, aber keine Tabletten, die aufgehalten oder auch nur verlangsamt hätten, was mit ihm geschah), schimmerte auch auf dem Infusionsständer, der zurzeit nicht benutzt wurde, nur zu bald aber wieder in Gebrauch sein würde.
Aber sie konnte ihm nichts ansehen. Nichts, was seinen schon fast grotesk schmerzverzerrten Gesichtsausdruck erklärt hätte.
Sie setzte sich zu ihm, nahm seinen sich unablässig schüttelnden Kopf und hielt ihn sich an die Brust. Obwohl er so aufgewühlt war, fühlte sich seine Haut kühl an; sein ausgelaugtes, sterbendes Blut konnte seinem Gesicht keine Wärme spenden. Sie musste daran denken, wie sie vor langer Zeit auf der High School Dracula gelesen hatte und das wohlige Gruseln gar nicht mehr so wohlig gewesen war, sobald sie im Bett lag, das Licht gelöscht war und Schatten ihr Zimmer erfüllten. Sie wusste noch, dass sie heilfroh gewesen war, dass es in Wirklichkeit gar keine Vampire gab. Heute wusste sie es besser. Einen Vampir gab es durchaus, und der war viel angsteinflößender als irgendein Graf aus Transsilvanien; und er hieß nicht Dracula, sondern Leukämie, und man konnte ihm keinen Pfahl durchs Herz rammen.
Читать дальше