Robertas Enthusiasmus ist so ansteckend, dass in den Augen von Ellen und Hector Rinkenhauer eine vage Zuversicht glimmt.
Und die anderen Eltern gehen prompt darauf ein - als hätten sie nur auf eine solche Aufforderung gewartet. Roberta hat mit den Anrufen angefangen, kurz nachdem Duddits und seine Freunde losgezogen sind (zum Spielen, denkt Roberta, und zwar irgendwo in der Nähe, denn Henrys alte Mühle steht noch in der Auffahrt), und als die Jungs wiederkommen, drängen sich fast zwei Dutzend Leute im Wohnzimmer der Cavells, trinken Kaffee und rauchen Zigaretten. Den Mann, der gerade zu ihnen spricht, hat Henry schon mal gesehen, es ist ein Anwalt namens Dave Bocklin. Sein Sohn Kendall spielt manchmal mit Duddits. Ken Bocklin ist auch mongoloid, und er ist ganz in Ordnung, aber er ist nicht wie Duds. Aber jetzt mal im Ernst: Wer ist das schon?
Die Jungs stehen am Eingang des Wohnzimmers, Josie in ihrer Mitte. Sie trägt wieder ihre große Plastik-Handtasche mit BarbieKen darin. Und ihr Gesicht ist sogar fast sauber, denn als Biber die vielen Autos gesehen hat, hat er es ihr vor dem Haus mit seinem Taschentuch abgewischt. (»Das war vielleicht ein komisches Gefühl«, gesteht er ihnen später, als das ganze Theater vorbei ist. »Da stehe ich und mache dieses Mädchen sauber, das einen Körper hat wie ein Playboy-Bunny und dabei schätzungsweise so viel Grips wie ein Rasensprenger.«) Zuerst sieht sie niemand, nur Mr. Bocklin, und auch der macht sich anscheinend nicht klar, was er da sieht, denn er redet einfach weiter.
»Entscheidend dabei ist, dass wir mehrere Suchtrupps bilden, sagen wir mal, drei Paare pro ... pro Trupp ... und ... dann ... dann ...« Mr. Bocklin wird langsamer wie eine Spieldose, die abläuft, und steht dann einfach nur noch glotzend vor dem Fernseher der Cavells. Ein Raunen geht durch die eilig einberufene Elternversammlung, die Leute verstehen nicht, was mit dem los ist, der eben noch so selbstsicher referiert hat.
»Josie«, sagt er mit ausdrucksloser Stimme, die so ganz anders klingt als sein üblicher Gerichtssaalton.
»Ja«, sagt Hector Rinkenhauer, »so heißt sie. Was ist los, Dave? Ist alles in -«
»Josie«, sagt Dave und hebt eine zitternde Hand. Für Henry (und daher auch für Owen, der das mit Henrys Augen sieht) sieht er aus wie der Geist des künftigen Weihnachtsfestes, der auf Ebeneezer Scrooges Grab zeigt.
Einer sieht sich um ... zwei... vier ... Alfie Cavells Augen, so groß und ungläubig hinter seiner Brille ... und schließlich schaut sich auch Mrs. Rinkenhauer um.
»Hallo, Mum«, sagt Josie ganz nebenbei. Sie hält ihre Handtasche hoch. »Duddie hat meine BarbieKen gefunden. Ich hab festgehangen in einem -«
Der Rest wird übertönt von einem Freudenschrei. Henry hat in seinem ganzen Leben keinen solchen Schrei gehört, und obwohl es wunderbar ist, ist es doch irgendwie auch schrecklich.
»Arschkrass«, sagt Biber ganz leise.
Jonesy hält Duddits im Arm, den der Schrei erschreckt hat.
Pete sieht Henry an und nickt ihm kaum merklich zu: Haben wir gut gemacht Henry erwidert das Nicken. Ja, das haben wir.
Es ist vielleicht nicht ihre größte Stunde, aber es ist sicherlich ein guter zweiter Platz. Und als Mrs. Rinkenhauer ihre Tochter schluchzend in die Arme schließt, tippt Henry Duddits auf den Arm. Als sich Duddits zu ihm umsieht, küsst ihn Henry sanft auf die Wange. Guter alter Duddits, denkt Henry, Guter alter -
»Da wären wir, Owen«, sagte Henry ganz ruhig. »Ausfahrt 27.«
Owens Blick ins Wohnzimmer der Cavells zerplatzte wie eine Seifenblase, und er sah das vor ihnen aufragende Schild: rechte spur ausfahrt z 7 kansas street. Die fassungslosen Freudenschreie der Frau hallten ihm immer noch in den Ohren wider.
»Alles klar?«, fragte Henry.
»Ja. Ich glaube schon.« Er fuhr die Ausfahrt hoch, und der Humvee kämpfte sich durch den Schnee. Die Uhr im Armaturenbrett war ebenso ausgefallen wie Henrys Armbanduhr, aber er meinte, einen Hauch von Morgenröte entdecken zu können. »Rechts oder links an der Kreuzung? Sag's mir schnell, ich will nicht bremsen müssen.«
»Links, links.«
Owen bog mit dem Hummer-Jeep unter einer blinkenden Ampel nach links ab, wobei er wieder leicht ins Schleudern geriet, und fuhr dann in südliche Richtung die Kansas Street entlang. Hier war der Schnee vor nicht allzu langer Zeit geräumt worden. Es wehte aber bereits wieder zu.
»Der Schneefall lässt nach«, sagte Henry.
»Ja, aber der Wind ist schlimm genug. Du freust dich darauf, ihn zu sehen, nicht wahr? Duddits, meine ich.«
Henry lächelte. »Ein bisschen nervös bin ich schon, aber: ja.« Er schüttelte den Kopf. »Duddits, Mann ... Bei Duddits wird's einem einfach warm ums Herz. Er ist ein Schnüffel. Du wirst es ja sehen. Ich wünschte nur, wir würden nicht so im Morgengrauen da aufkreuzen.«
Owen zuckte mit den Achseln. Das lässt sich nicht ändern, besagte die Geste.
»Sie wohnen jetzt schon seit etwa vier Jahren hier drüben, und ich habe sie noch nie in ihrer neuen Wohnung besucht. « Und ohne es zu bemerken, wechselte er zur Gedankensprache über: Sie sind umgezogen, nachdem Alfie gestorben ist.
Wart ihr - und dann, statt Worte, ein Bild: schwarz gekleidete Menschen unter schwarzen Regenschirmen. Ein verregneter Friedhof. Ein aufgebahrter Sarg, R. I. P. alfie oben eingeschnitzt.
Nein, sagte Henry und schämte sich. Keiner von uns.
?
Aber Henry wusste nicht, warum sie nicht hingegangen waren, nur ein Vers aus einem Gedicht fiel ihm ein: Die regsame Hand schreibt, und hat sie geschrieben, dann gleitet sie weiter. Duddits war ein wichtiger (das Wort, das er eigentlich benutzen wollte, war entscheidender) Bestandteil ihrer Kindheit gewesen. Aber als diese Verbindung dann zerbrochen war, wäre es eine Qual gewesen zurückzugehen, eine sinnlose Qual. Jetzt ging ihm etwas auf. Die Bilder, die er mit seiner Depression und der zunehmenden Entschlossenheit, sich umzubringen, assoziierte - wie seinem Vater Milch über das Kinn rann, wie Barry Newman mit seinem XXL-Arsch aus seinem Sprechzimmer eilte -, hatten die ganze Zeit ein anderes, eindringlicheres Bild überlagert: den Traumfänger. War das nicht der wahre Ursprung seiner Verzweiflung? Das grandiose Konzept des Traumfängers, gebündelt mit der Banalität der Zwecke, für die dieses Konzept dann eingesetzt wurde? Duddits zu nutzen, um Josie Rinkenhauer zu finden, war so, als hätte man die Quantenphysik nur dazu entdeckt, um mit ihrer Hilfe ein Videospiel zu entwickeln. Nein schlimmer noch: dann festzustellen, dass die Quantenphysik auch zu gar nichts anderem taugte. Sie hatten natürlich etwas Gutes getan - ohne sie wäre Josie Rinkenhauer in dem Rohr krepiert wie eine Ratte in einer Regentonne. Aber, jetzt mal im Ernst, es war ja nun nicht so, dass sie eine künftige Nobelpreisträgerin gerettet hatten-Ich kann dem zwar nicht ganz folgen, was dir da gerade
durch den Kopf geht, sprach Owen jetzt plötzlich ganz tief in Henrys Gedanken hinein, aber es klingt ganz schön arrogant Welche Straße?
Henry funkelte ihn wütend an. »Wir haben ihn in letzter Zeit nicht besucht, okay? Können wir es vielleicht dabei belassen?«
»Ja«, sagte Owen.
»Aber wir haben ihm alle Weihnachtskarten geschickt, klar? Jedes Jahr, und daher weiß ich, dass sie in die Dear-born Street gezogen sind, in die Dearborn Street 41 in West Side Derry. Bieg bei der dritten Straße rechts ab.«
»Okay. Krieg dich ein.«
»Fick deine Mutter und stirb.«
»Henry —«
»Wir haben einfach den Kontakt verloren. So was kommt vor. Einem so makellosen Menschen wie dir ist es wahrscheinlich noch nie passiert, aber uns anderen ... dem Rest der Menschheit ...« Henry schaute nach unten, sah, dass er die Fäuste geballt hatte, und zwang sich, sie wieder zu öffnen. »Es reicht.«
»Mr. Makellos steht ja wahrscheinlich mit seinen sämtlichen Schulfreunden ständig in Verbindung, nicht wahr? Ihr trefft euch wahrscheinlich einmal im Jahr, und dann schnippt ihr den Mädels wieder den BH auf, hört Mötley Crüe und esst Tuna Surprise, genauso, wie es das früher immer in der Cafeteria gab.«
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