»Ich habe einen kranken Freund besucht«, sagte Mr. Gray.
»Tatsächlich. Nun, Sir, ich würde gern Ihren Führerschein und die Wagen-«
Dann wurde der Blick des Polizisten schlagartig vollkommen ausdruckslos. Er ging steifbeinig zu der Wand mit dem duschen nur für FERNFAHRER-Schild. Dort stand er bibbernd einen Moment lang und versuchte sich zu wehren ... und fing dann an, seinen Kopf mit großer Wucht und viel Schwurig an die Fliesen zu knallen. Beim ersten Schlag flog ihm der Stetson vom Kopf. Beim dritten fing der Bordeaux an zu fließen, perlte erst auf die beigen Fliesen und spritzte dann.
Und weil er nichts dagegen tun konnte, griff Jonesy zu dem Telefon auf seinem Schreibtisch.
Es war tot. Während er seine zweite Portion Bacon verdrückt hatte oder zum ersten Mal als menschliches Wesen kacken war, hatte ihm Mr. Gray die Leitung gekappt. Jonesy war auf sich allein gestellt.
Trotz seines Entsetzens - oder vielleicht gerade deswegen -brach Jonesy in Gelächter aus, als seine Hände mit einem Dysart's-Handtuch das Blut von der gefliesten Wand wischten. Mr. Gray hatte auf Jonesys Kenntnisse über das Verstecken und/oder Beseitigen von Leichen zugegriffen und war dabei förmlich auf eine Goldader gestoßen. Als lebenslanger Fan von Horrorfilmen, Thrillern und Krimis war Jonesy da in gewisser Hinsicht ein richtiger Fachmann. Selbst jetzt, als Mr. Gray das blutige Handtuch auf die triefnasse Uniformbrust des Polizisten fallen ließ (die Jacke hatte er ihm um den übel zugerichteten Kopf gewickelt), spulte sich vor Jonesys geistigem Auge ab, wie in Der talentierte Mr. Ripley, sowohl in der Verfilmung als auch in Patricia Highsmiths Roman, die Leiche von Freddy Miles beseitigt worden war. Es liefen auch andere Bänder, so viele durcheinander, dass Jonesy schwindelig davon wurde, wenn er zu genau hinsah, so wie es ihm immer erging, wenn er in die Tiefe schaute. Aber das war noch nicht das Schlimmste daran. Mit Jonesys Hilfe hatte der talentierte Mr. Gray etwas entdeckt, das ihm noch besser gefiel als knuspriger Bacon, ja, sogar noch besser, als aus Jonesys Zorn zu schöpfen. Mr. Gray hatte das Morden für sich entdeckt.
Hinter den Duschen ging es in einen Umkleideraum. Dahinter führte ein Flur zum Schlafsaal für Fernfahrer. Auf dem Flur war niemand. Am anderen Ende befand sich eine Tür, die hinten aus dem Gebäude heraus auf eine verschneite Sackgasse führte. Aus den Schneewehen ragten dort zwei große grüne Müllcontainer. Eine Wandlampe warf einen fahlen Lichtschimmer und lange, lauernde Schatten. Mr. Gray, der schnell lernte, suchte den Leichnam des Polizisten nach dessen Autoschlüsseln ab und fand sie. Er nahm dem Mann auch die Pistole ab und steckte sie in eine mit einem Reißverschluss versehene Tasche von Jonesys Jacke. Mr. Gray klemmte das blutgetränkte Handtuch in die Hintertür und schleifte dann die Leiche hinter einen der Müllcontainer.
Das alles, von dem schaurig erzwungenen Selbstmord des Polizisten bis zur Rückkehr in den Flur, dauerte keine zehn Minuten. Jonesys Körper fühlte sich leicht und geschmeidig an, alle Müdigkeit war verflogen, zumindest vorläufig: Er und Mr. Gray genossen eine weitere Endorphin-Euphorie. Und zumindest für einen Teil dieser ganzen Sauerei war
Gary Ambrose Jones verantwortlich. Nicht nur für die Kenntnisse der Leichenbeseitigung, sondern auch für die unbewussten blutrünstigen Impulse unter der dünnen Zuckerguss-Schicht mit ihrem »Das denkst du dir alles nur aus«. Mr. Gray saß zwar am Steuer - Jonesy musste sich also nicht mit dem Gedanken belasten, er sei der eigentliche Mörder -, aber der Motor war doch Jonesy.
Vielleicht verdienen wir, ausgelöscht zu werden, dachte Jonesy, als Mr. Gray zurück durch den Duschraum ging (und dabei mit Jonesys Augen nach Blutspritzern Ausschau hielt und Jonesys Hand mit den Schlüsseln des Polizisten spielen ließ). Vielleicht verdienen wir, in nichts weiter als ein paar rote Sporen verwandelt zu werden, die der Wind davonträgt. Das wäre vielleicht das Beste. Gott stehe uns bei.
Die müde aussehende Frau an der Kasse fragte ihn, ob er den Polizisten gesehen habe.
»Klar«, sagte Jonesy. »Ich habe ihm sogar meinen Führerschein und meine Fahrzeugpapiere gezeigt.«
»Seit dem Nachmittag waren eine Menge Polizisten hier«, sagte die Kassiererin. »Schneesturm hin oder her. Die sind alle höllisch nervös. Das sind ja alle. Wenn ich Leute von anderen Planeten sehen will, leih ich mir ein Video aus. Haben Sie was Neues gehört?«
»Im Radio heißt es, das sei alles falscher Alarm«, antwortete er und zog seinen Reißverschluss zu. Er schaute zu dem Fenster auf den Parkplatz hinüber und überprüfte noch einmal, was er bereits gesehen hatte: Dank der zugefrorenen Scheibe und des Schneetreibens war die Sicht gleich null. Hier drin würde niemand sehen können, wenn er davonfuhr.
»Ja? Wirklich?« Die Erleichterung nahm ihr etwas die Müdigkeit. Sie sah jünger aus.
»Und wundern Sie sich nicht, wenn Ihr Freund nicht so schnell wiederkommt. Er hat gesagt, er würde erst mal eine gepflegte Wurst legen.«
Zwischen ihren Augenbrauen zeigte sich eine senkrechte Falte. »Das hat er gesagt?«
»Gute Nacht. Ein schönes Thanksgiving. Frohe Weihnachten. Ein glückliches neues Jahr!«
Einiges davon, so hoffte Jonesy, stammte von ihm. Er versuchte durchzudringen, sich bemerkbar zu machen.
Ehe er sehen konnte, ob er bemerkt wurde, änderte sich der Blick aus seinem Bürofenster, als sich Mr. Gray von der Kasse abwandte. Fünf Minuten später fuhr er wieder auf dem Highway in südliche Richtung, und die Schneeketten des Streifenwagens rumpelten und schabten und gestatteten ihm konstante sechzig Stundenkilometer.
Jonesy spürte, wie Mr. Gray in seiner Umgebung wieder auf Gedankenfang ging. Mr. Gray konnte zu Henrys Hirn Vordringen, aber nicht hinein - wie auch Jonesy war Henry in gewisser Hinsicht anders. Aber das machte nichts. Henry hatte jemanden dabei, Overhill oder Underhill hieß er. Und von dem erfuhr Mr. Gray alles Nötige. Sie waren siebzig Meilen hinter ihnen, vielleicht sogar mehr ... und fuhren vom Highway ab? Ja, sie fuhren in Derry ab.
Mr. Gray schaute in Gedanken noch weiter hinter sich und entdeckte weitere Verfolger. Sie waren zu dritt ... und Jonesy spürte, dass es diese Gruppe weniger auf Mr. Gray als auf Overhill/Underhill abgesehen hatte. Er fand das ebenso unglaublich wie unerklärlich, aber es schien wirklich so zu sein. Und Mr. Gray gefiel das sehr. Er machte sich nicht einmal die Mühe herauszufinden, warum Overhill/Underhill und Henry in Derry hielten.
Mr. Grays Hauptsorge bestand darin, den Wagen zu wechseln. Am liebsten hätte er einen Schneepflug gehabt,
falls ihn Jonesys Fahrkünste den steuern ließen. Das würde einen weiteren Mord erfordern, aber das war dem zusehends menschlicheren Mr. Gray nur recht so. Mr. Gray wurde eben erst warm.
Owen Underhill steht auf dem Hang, ganz in der Nähe des Rohrs, das aus dem Laub ragt, und sieht, wie sie dem schmutzigen, verängstigt dreinblickenden Mädchen - Josie -heraushelfen. Er sieht Duddits (einen großen, jungen Mann mit Schultern wie ein Footballspieler und dem fast gefärbt wirkenden blonden Haar eines Filmstars) sie umarmen und ihr schmutziges Gesicht abküssen. Er hört ihre ersten Worte: »Ich will zu meiner Mami.«
Die Jungs kriegen das alleine hin; sie brauchen keine Polizei und keinen Krankenwagen. Sie helfen ihr einfach nur den Hang hinauf und durch die Lücke im Bretterzaun, bringen sie dann durch den Strawford Park (statt der Mädchen in Gelb spielen dort jetzt Mädchen in Grün; und weder sie noch ihre Trainerin achten auf die Jungs oder auf ihre schmutzige, durchweichte Trophäe) und dann über die Kansas Street in die Maple Lane. Sie wissen, wo Josies Mutter und Vater sind.
Und dort sind auch nicht nur die Rinkenhauers. Als die Jungs wieder zum Haus der Cavells kommen, stehen auf beiden Straßenseiten bis zur nächsten Ecke Autos geparkt. Roberta hatte vorgeschlagen, die Eltern von Josies Freundinnen und Schulkameradinnen einzuladen. Sie werden auf eigene Faust nach ihr suchen und die ganze Stadt mit ver-Missx-Plakaten pflastern, sagt sie. Und das nicht an schattigen, abgelegenen Stellen (wo Suchplakate für vermisste Kinder in Derry normalerweise hinkommen), sondern dort, wo die Leute förmlich mit der Nase darauf gestoßen werden.
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