Sie flog direkt darauf zu.
Alexstrasza senkte den Kopf in der letztmöglichen Sekunde, wie ein Schafbock, der auf einen Feind zugaloppierte. Ihre riesigen Hörner trafen die grazile Kugel. Mit einem unwirklichen metallenen Geräusch zerbarst die Kugel der Einheit in Tausende leuchtende Teile, wie prasselnder Regen fielen sie auf die Drachen darunter hinab.
Sie musste von hier fort. Weg von den Drachen, die so schnell das Schlimmste von einem annahmen, der immer einer der Besten gewesen war. Nicht nur von den blauen, grünen oder von ihrem eigenen Schwann, die es hätten besser wissen müssen...
Hätte sie selbst es besser wissen müssen? Was, wenn es sich als wahr erwies?
Nein. Nein, sie konnte und würde nicht einen Hauch davon in ihr Herz einlassen. Sonst würde sie jemanden verraten, der stets ihres Vertrauens würdig gewesen war.
Torastrasza, Ysera und Kalecgos flogen neben ihr her. Sie sagten etwas, was sie nicht verstehen konnte, und Alexstrasza wirbelte mitten im Flug herum und griff sie an.
Erschreckt drehten sie ab. Sie folgte ihnen nicht. Sie wollte nicht töten. Sie wollte nur, dass sie sie allein ließen, damit sie diesem Ort entfliehen konnte, diesem furchtbaren Ort, der nun ein Platz von unaussprechlichem, fast unvorstellbarem Schrecken war. Sie konnte nie wieder den Tempel anblicken, ohne diesen Moment erneut zu durchleben. Und nun – es war unerträglich.
Alles war unerträglich.
In ihrer Zerbrochenheit klammerte sich Alexstrasza an eine Sache – eine Hoffnung, dass sie, wenn sie nur weit genug, nur schnell genug fliegen konnte, alles vergessen würde.
Alexstraszas Angriff wurde von Wut und Angst befeuert, er war kein ernsthafter Versuch, zu töten. Und Ysera, Torastrasza und Kalec wichen ihr mit Leichtigkeit aus. Ysera fühlte ihren eigenen Schmerz – viele der Eier, die bei der Explosion zerstört worden waren, hatten ihrem Schwarm gehört, wenn nicht gar ihr selbst. Doch sie wusste, dass das nichts war im Vergleich zu dem, was ihre Schwester durchlitt.
Alexstrasza hatte den Gefährten, ihre Kinder und die Hoffnung verloren, alles auf einen schrecklichen Schlag.
Ysera flog zurück zum Tempel, traurig, ihr Herz schwer. Ihr Geist nagte an den rätselhaften Teilen eines Puzzles.
Die Drachen zogen in Gruppen ab. Tief betrübt, wütend. Niemand, so schien es, wollte hier bleiben, unter all dem, was einst so wertvoll gewesen war.
Der Wyrmruhpakt war ebenso zerstört wie das Symbol. Und der Tempel war nun bedeutungslos.
Doch Ysera floh nicht. Sie kreiste langsam um den Tempel, betrachtete ihn unbefangen, landete dann, verwandelte sich in Elfengestalt und ging auf zwei Beinen um das Gebäude herum. Überall lagen Leichen: rote, blaue, grüne und Zwielichtdrachen. Die unangemessene Energie und Lebenskraft der Magie, die Korialstrasz benutzt hatte, um die Sanktümer zu zerstören, drang langsam an die Oberfläche. Lebende Pflanzen brachen durch die Kruste des weißen Schnees.
Ysera schüttelte traurig den Kopf. Was für kräftiges Leben, das solchen Tod verursacht hatte. Sie bückte sich, um ein langes grünes Blatt zu pflücken.
Ihre Augen waren offen, doch sie achtete nicht darauf, was sie damit sah. Sie hatte alles versucht, um mit den anderen Drachen über ihre unvollständige Vision zu reden. Doch das war fast unmöglich: Der einzige Weg für jemand anderen, es wirklich zu verstehen, wäre, dass auch er schlief, zehntausend Jahre lang träumte und erst jetzt erwachte und versuchte, den Sinn darin zu erkennen. Ysera wusste, dass sie nicht verrückt war, und sie fühlte, dass auch die anderen es wussten. Doch sie hatte mittlerweile ein gewisses Verständnis für Wahnsinn.
Die Stunde des Zwielichts. Sie hatte davon auf dem Treffen gesprochen, versucht, die anderen davor zu warnen. Doch die Warnung war verloren gegangen. Ein kleines, helles Fragment von... etwas..., was schnell beiseitegeschoben wurde wie eine zerbrochene Scherbe eines Topfes unter einem fleißigen Besen. Es war...
Sie nagte an ihrer Unterlippe und dachte nach.
Es war die größte Herausforderung, der sich der Drachenschwarm stellen musste. Doch sie wusste nicht, gegen wen sie kämpfen würden. Es konnte schon bald geschehen... oder erst in einigen Äonen. Konnte es etwas mit Todesschwinges Rückkehr zu tun haben? Sicherlich musste es das... oder doch nicht? Das Zerbrechen der Welt war eines der schlimmsten Dinge, die jemals auf Azeroth geschehen waren.
Wie konnte sie die anderen dazu bringen, die Ernsthaftigkeit der Lage zu erkennen, wenn sie selbst sie nicht beschreiben konnte? Sie stieß einen kleinen Laut des Ärgers und der Frustration aus.
In einer Sache war sie sich sicher. Es fehlten noch viele Teile in diesem Puzzle. Und es gab ein Kernstück, das notwendig war, bevor alle anderen ihren Platz finden konnten. Es war ein sehr merkwürdiges Teil, ein unwahrscheinliches im besten Fall, und sie war unsicher, wie es hineinpassen sollte. Sie wusste nur, dass es hineinpassen musste.
Ysera hatte ihn in ihren Traum hinein- und herausgleiten gesehen. Sie hatte gedacht, sie würde die Rolle der Dinge verstehen. Doch nun, so seltsam es auch schien, brachte etwas... eine innere Sicherheit, die sie nicht vollständig verstand, sie auf den Gedanken, dass sie nicht die volle Tragweite seines Beitrags für Azeroth erkennen konnte.
Er war kein Drache. Doch er trug die Interessen der Drachenschwärme in seinem Herzen. Ob er das nun wusste oder nicht. Er war einzigartig.
Sie neigte den Kopf, ließ den Wind mit ihrem langen grünen Haar spielen.
Vielleicht passte er deshalb hinein. Selbst die Aspekte waren keine einzigartigen Wesen, obwohl jeder einzigartige Fähigkeiten besaß. Nicht einer, sondern fünf waren es am Anfang gewesen, als die Titanen gekommen waren und ihre Kräfte zum Wohle Azeroths geteilt hatten. Jetzt waren es noch vier, doch es würden bald wieder fünf sein, wenn die Blauen entschieden hatten, wen sie zu ihrem Anführer wählen würden.
Doch dieses Wesen gab es nur einmal.
Es gab nur einen Thrall.
Thrall konnte nicht schlafen. Aggra schlummerte ruhig neben ihm auf ihren Schlaffellen. Doch sein Geist kam nicht zur Ruhe. Er lag auf dem Rücken und starrte zu den Fellen hoch, die die Hütte bedeckten. Schließlich stand er auf, warf ein paar Kleidungsstücke und einen Umhang über und ging nach draußen.
Er atmete die feuchte Luft ein und sah zum Nachthimmel empor. Die Sterne zumindest schienen ihm etwas Frieden zu bringen und die beiden Monde – die Weiße Dame und das Blaue Kind – waren nicht beeinflusst von Todesschwinges gewalttätiger Wiedergeburt. Im Moment waren die Elemente so stabil, wie sie sein konnten, hier im Mahlstrom – doch seiner Hilfe war das nicht zu verdanken, wie er wusste, und er runzelte die Stirn.
Er ging ohne bestimmtes Ziel los. Er wollte sich einfach nur bewegen, in Stille und Einsamkeit, und sehen, ob das seine Gedanken weit genug beruhigen würde, damit er schließlich schlafen konnte.
Was sich während des Zaubers und danach ereignet hatte – sowohl mit den Mitgliedern des Rings und mit Aggra im Besonderen –, hatte ihn erschüttert. Er fragte sich, ob sie recht hatten. Half er hier wirklich? Er hatte alles aufgegeben, um hierherzukommen, und dennoch schien es, dass er nicht nur keine Hilfe war, er war auch noch ein Unruhestifter. Er war heute zurückgeblieben, „um sich auszuruhen“, während die anderen ihre Arbeiten erledigt hatten. Das war beschämend und schmerzvoll. Er knurrte tief in der Kehle und beschleunigte seine Schritte.
Er wollte nicht glauben, dass Aggra recht hatte – dass er sich hinter seiner Anführerschaft versteckte und ein Sklave seiner Plichten war. Wenn es so war, warum konnte er sich dann nicht hier in der Arbeit verlieren?
„Was stimmt nicht mit mir?“, murmelte er und schlug mit seiner großen Faust in die Fläche seiner Hand.
Читать дальше