»Tanthalas!« Auf Porthios’ Gesicht malte sich der Schreck. »Wo ist Gilthanas? Was hast du –?«
»Hör zu!« zischte Tanis. »Wenn du irgend etwas bei deiner Wache im Hain gelernt hast, dann hör mir jetzt zu.«
Sein Cousin trat zurück und schien bewußt eine unbewegte Miene aufzusetzen. Er atmete einmal tief durch. »Was ist, Tanis?« fragte er mit ruhiger Stimme.
»Es ist eine Verschwörung im Gange, bei der du und die Stimme getötet werden sollen.«
»Die Stimme? Geht es meinem Vater gut?«
»Ja, sicher. Ich bin hier, um den Mörder aufzuhalten.«
»Du?« Porthios lachte kurz, doch sein Gesicht war überraschend freundlich. »Tanis, du bist doch noch ein Kind…«
Tanis redete hastig, denn er wußte, daß die Zuschauer vor der Tür unruhig werden würden. Das Schlimmste, was jetzt geschehen konnte, war, daß jemand die Tür aufmachte und hereinsah. »Porthios, derselbe, der Xenoth und Eld Ailea umgebracht hat, ist hinter dir, der Stimme und Laurana her. Ich weiß es.«
»Woher weißt du das?«
Tanis überlegte. Er hatte keine Zeit mehr, Porthios zu überzeugen. Er konnte die Situation mit Gewalt beenden, doch sein Elfenblut sträubte sich dagegen, einen jungen Mann während seines Kentommen niederzuschlagen, egal aus welchem Grund.
Aber er konnte lügen.
»Porthios«, sagte Tanis. »Gilthanas ist tot.«
Es gab eine Pause. Porthios verzog keine Miene.
»Der Mörder hat auch ihn erwischt. Porthios, wenn du und Laurana und die Stimme umkommen, stürzt dieses Reich in ein Chaos.«
Porthios hatte offenbar Schwierigkeiten, alles zu verdauen, was er gerade gehört hatte. Tanis litt mit ihm, weil er an seinem Schmerz mitschuldig war. »Ich habe einen Plan, Porthios.«
Die Antwort kam ruhig: »Welchen?«
»Hör zu«, sagte Tanis. »Ich bin nicht so wichtig…«
Flint blickte in den Spalt in der Eiche, der ihm vor ein paar Monaten das Leben gerettet hatte. Zu Flints Erleichterung hatte sich der Baum inzwischen wieder geöffnet. Er betrat die Höhle. Windsbraut folgte ihm auf den Fuß, ohne daß Flint sie beachtete.
»Wie bin ich letztes Mal durchgekommen? Was habe ich gemacht?« murmelte er, während er mit einem brennenden Holzscheit in der Hand knöcheltief im trockenen Laub stand. »Die Rune.« Er sah nach unten. »Der Boden des Baums hat Feuer gefangen. Vielleicht war es das.« Er dachte nach. »Nun, wenn ich mich irre, komme ich eben in den Flammen um.«
»Na, schön«, sagte er und berührte die Blätter mit der Fackel.
Flammen loderten auf.
Miral rannte den zweiten Balkon entlang, um die Wendeltreppe zum Erdgeschoß hinunterzulaufen. Gilthanas war schon viel zu lange in dem Korridor. Etwas lief nicht nach Plan. Er tobte innerlich.
Als er die Tür zum Treppenhaus erreichte, hörte er entsetzte Worte in der Menge und drehte sich um.
»Porthios kommt bewaffnet!«
»Was?«
»Zum Kentommen kommt der junge Elf nie bewaffnet!«
»Was hat das zu bedeuten?«
Solostaran erbleichte, als er die Gestalt anstarrte, die er für seinen Sohn und Erben hielt, doch er konnte sich beherrschen. »Porthios«, befahl er. »Sag mir, was das soll.«
»Es ist ein Mörder im Turm«, schrie Tanis und fegte sich die Kapuze vom Gesicht.
Wieder brachen die Adligen in erschrockene Rufe aus, während sich die Menge unwillkürlich teilte und Tanis mit dem Schwert in der Hand hindurch eilte. Mit einem Sprung war er auf dem Podium neben der Stimme.
»Tanthalas!« schrie Miral von oben. »Aber du bist doch tot!«
Der Junge fuhr zu dem Magier herum. Tanis’ Blick traf sich mit dem von Miral, und der Magier sah den Schmerz in den Augen des Halbelfen. »Woher weiß du das, Zauberer?« gab er zurück.
»Wachen!« donnerte Tyresian.
Tanis hielt sein Schwert hoch. Elansas Amulett glitzerte wie eine kleine Sonne. »Der Zauberer hat schon zweimal getötet, und heute will er noch mehr Morde begehen.« Er zeigte mit dem Schwert auf Miral.
Miral bekämpfte einen Lachanfall angesichts des Chaos unter ihm. Gab es einen besseren Zeitpunkt für seinen letzten Spruch? Er begann zu singen.
»Bei den Göttern«, bellte Tyresian. »Der Halbelf hat den Verstand verloren. Und der Zauberer auch. Wachen!«
»Tanis, wo ist Porthios?« kam Lauranas schriller Schrei. »Und Gilthanas?«
Tanis hatte keine Zeit zu antworten. Er drängte sich durch die Adligen zur Treppe. Schwarzgekleidete Palastwachen strömten in den Turm, erkannten jedoch nicht gleich, daß es der Halbelf war, den Tyresian festnehmen wollte. Tanis schlüpfte zwischen ihnen durch, warf sich gegen die Tür zur Treppe und nahm immer drei Stufen auf einmal.
Als wenn die Worte in seinem Kopf dröhnten, hörte Tanis, wie Miral mit seinem Spruch fortfuhr. Über ihnen knirschte die Spitze des Turms.
Plötzlich erschien vor ihm auf den Stufen Eld Ailea.
Tanis warf sich gegen die Wand der ersten Empore.
»Ailea!« rief er. »Du bist nicht tot.« Sie sah ihn an und lächelte.
Dann war es plötzlich nicht mehr Ailea, sondern Xenoth, der laut lachte und spöttisch auf den Halbelfen zeigte. Tanis hielt das Schwert vor sich und kämpfte gegen die Panik an, die in ihm aufstieg.
Xenoth verwandelte sich in einen Elfen mittleren Alters mit schmalem Gesicht und reinblauen Augen. Sein Arm stützte eine blasse Frau mit langen, weizenblonden Locken und braunen Augen. Sie sah Tanis an, hob schwach eine Hand und flüsterte: »Tanthalas, mein Sohn.«
Tanis stand reglos da. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, denn die Qual dieses Moments drang tief in ihn ein. Dann riß er sich los und schrie: »Das ist Zauberei!« Die beiden Gestalten lösten sich schimmernd in Luft auf.
Er stürmte durch den Platz, wo sie gestanden hatten. Kalte Luftfinger streiften seinen Arm, als er vorbeirannte.
»Miral!« schrie er, als er auf den zweiten Balkon sprang.
Drei Mosaikteilchen lösten sich und stürzten in die wimmelnde Elfenmenge. Ein dünner Riß tat sich in der Spitze des Turms auf.
In diesem Augenblick erschienen mit einem Donnerschlag Flint und Windsbraut auf dem Podium.
»Arelas!« brüllte der Zwerg. Seine Stimme hallte durch den Turm. »Arelas Kanan!« Er zeigte mit dem Hammer auf den Magier.
Mirals Singsang wurde langsamer und brach ab. Mit erhobenen, allmählich schweißnassen Händen hielt er den Spruch auf und sah auf Flint hinunter. Plötzlich war es im Turm totenstill bis auf das leise »Pling« der Mosaikteilchen, die von oben herabregneten. Die Luft roch nach Stein und Gips.
»Arelas?« sagte die Stimme zögernd. »Mein Bruder?«
»Dein Bruder ist nicht gestorben, Stimme«, sagte Flint. »Nicht Arelas. Er kam als Miral zu dir.«
Das Maultier schrie und zerstörte damit Flints Bann, woraufhin Miral seinen Gesang wieder aufnahm. Ein Stöhnen, wie in Todesqual, kam von dem Riß zwischen den Mosaiken von Tag und Nacht in der Spitze des Turms.
»Er hat Lord Xenoth umgebracht, weil der herausgefunden hatte, wer er wirklich war«, schrie Flint mit zornbebender Stimme. »Aus dem gleichen Grunde mußte Eld Ailea sterben. Und jetzt will er dich und deine Kinder töten!«
Mit erstaunlicher Ruhe drehte sich die Stimme einfach zu Miral – zu Arelas – um und fragte: »Warum?«
Als dieser auf sie herab sah, spürte er die Wut, die er seit fast zweihundert Jahren in sich trug. Er nahm die Arme herunter und hörte auf zu singen. »Sie haben mich weggeschickt, Solostaran!« brüllte er. »Sie haben mich aus Qualinost weggeschickt!«
»Du lagst im Sterben, Arelas«, erwiderte die Stimme. »Jedenfalls glaubten wir das.«
»Ich war immer der Begabtere, Solostaran«, schrie Arelas. »Ich hätte die Stimme sein sollen. Ich werde die Stimme sein! Und ich werde Qualinesti für die reinen Elfen bewahren. Jetzt, wo ich die Macht des Grau – «
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