»Sie schläft. Oder ist bewusstlos. Man kann es wirklich nicht so genau sagen, wenn man sie ansieht. Sie wirkt sehr blass und grau.«
»Was immer es ist, vielleicht ist es besser so. Vielleicht hat sie sich mit dem Blut, das sie auf dem Turm verloren hat, einen Gefallen erkauft, wenn das für ihren erschöpften Schlummer verantwortlich ist.« Ista durchwühlte den Haufen. Ein Unterkleid sah so aus, als wäre der Saum kurz genug, dass sie nicht darüber stolpern würde. Es hatte die Farbe frischer Sahne, eingefasst mit aufwendiger Spitze. Außerdem fand Ista ein zartes weißes Kleid, ein Festtagsgewand zum Tag des Bastards. Es war mit schimmerndem weißem Garn bestickt, das ihm Gewicht und Schwung verlieh. Die unbekannte Schneiderin hat es irgendwie geschafft, das Fries aus kleinen, tanzenden Ratten und Krähen mit beträchtlichem Charme zu versehen. »Perfekt«, murmelte Ista und hielt es empor. Sie bemerkte, dass der Funke auf ihrer linken Hand verschwunden war, obwohl das eisige Mal fortbestand.
»Majestät … ist es nicht ein wenig gewagt, die Farben des Bastards zu tragen, wenn Ihr Euch in die Hände der Vierfältigen begebt?«
Ista lächelte grimmig. »Sollen sie das ruhig denken Ich erwarte nicht, dass sie die wahre Botschaft verstehen. Schnell jetzt. Mach mir das Untergewand zu.«
Liss schnürte die schmale Taille zusammen. Ista legte das Überkleid an, schüttelte die weiten Ärmel aus und schloss das Kleid unter den Brüsten mit der Trauerbrosche aus Amethyst und Silber. Ihr kam es so vor, als hätte sich die Bedeutung dieses Erbstücks ein halbes Dutzend Mal gewandelt, seitdem sie es bekommen hatte. In der letzten Nacht waren alle alten Kümmernisse gründlich daraus ausgetrieben worden. Als sie es heute anlegte, war es neu angefüllt mit tiefer Trauer um Arhys und jene, die mit ihm geritten waren. Zu dieser Stunde fühlte alles an ihr sich erneuert an.
»Und jetzt die Haare«, befahl sie und ließ sich auf der Bank nieder. »Irgendwas, das schnell geht und ordentlich aussieht. Wenn ich schon nach draußen gehe und mich in ihre Hände begebe, will ich dabei nicht aussehen wie eine Verrückte, die man durch eine Hecke geschleift hat, oder durch einen Heuhaufen, der von einem Blitz getroffen wurde.« Sie lächelte versonnen. »Flechte es zu einem Zopf.«
Liss schluckte und fing an zu kämmen. Und, zum vierten oder fünften Mal seit dem Morgengrauen auf dem Turm, sagte sie: »Ich wünschte, Ihr würdet mich mitnehmen.«
»Nein«, sagte Ista mit Bedauern. »Normalerweise würdest du als Dienstmädchen einer wertvollen Geisel sehr viel sicherer sein als in dieser zerfallenen Festung, die kurz vor ihrem Fall steht. Wenn ich aber scheitere mit dem, was ich versuchen will, könnte Joen dich zum Futter für die Dämonen machen und deinen Geist, deine Erinnerungen und deinen Mut für ihre eigenen Zwecke stehlen. Oder sie würde dich als Ersatz für die versklavten Zauberer verwenden, die Arhys letzte Nacht getötet hat, und würde dich nicht als mein Dienstmädchen einsetzen, sondern als ihre Wache. Oder als Schlimmeres.«
Und wenn Ista Erfolg hatte … Sie hatte keine Ahnung, was danach geschehen würde. Heilige waren gegen Stahl ebenso wenig gefeit wie Zauberer. Ihre Vorgängerin, die verstorbene Heilige von Ranma … war nicht länger in der Lage, das zu bezeugen.
»Was könnte schlimmer sein?« Liss’ ausgreifende, gleichförmige Bewegungen mit der Bürste stockten. »Glaubt Ihr, sie hat Foix und seinen Bären ebenfalls versklavt? Jetzt schon?«
»In einer Stunde werde ich es wissen.« Plötzlich kam es Ista in den Sinn, was Joen noch Schlimmeres machen konnte. Das wäre die perfekte, ruchlose Vereinigung zweier Herzen: Liss an Foix’ Bär zu verfüttern, damit Foix’ eigene Sorge ihn vor Schreck und Kummer um den Verstand bringen würde, während ihrer beider Seelen sich vermischten … Dann fragte sie sich, wessen Geist verdorbener war, Joens, weil sie so etwas tun könnte, oder ihr eigener, weil sie Joen eine solche Tat unterstellte. Mir scheint, ich bin ebenfalls keine nette Person.
Gut.
»Ich habe hier noch einige weiße Bänder. Soll ich sie hineinflechten?«
»Ja, bitte.« Ista verspürte ein angenehmes, vertrautes Zupfen, während Liss mit flinken Fingern weiterarbeitete. »Wenn du auch nur die geringste Gelegenheit siehst, musst du fliehen. Das ist jetzt deine höchste Pflicht als mein Kurier. Du musst verbreiten, was hier geschehen ist, auch wenn alle dich für verrückt halten werden. Lord dy Cazaril wird dir glauben. Du musst ihn um jeden Preis erreichen.«
Hinter ihr herrschte Stille.
»Sag: Ich verspreche es, Majestät«, forderte Ista entschlossen.
Ein kurzes, trotziges Zögern, dann ein Flüstern: »Ich verspreche es, Majestät.«
»Gut.« Liss zog die letzte Schleife fest, und Ista stand auf. Lady Cattilaras weiße Seidenschuhe passten Ista nicht, doch Liss kniete nieder und verschnürte ein Paar hübsche weiße Sandalen, die gut genug passten. Sie führte die Verschnürung um Istas Knöchel.
Daraufhin geleitete sie Ista durch das Vorzimmer und hielt ihr die Tür zur Galerie auf.
Draußen lehnte Lord Illvin an der Wand, die Arme verschränkt. Anscheinend hatte auch er einen halben Becher Wasser für ein Bad gefunden. Obwohl er immer noch stank, waren seine Hände und sein frisch rasiertes Gesicht frei von Blut und Schmutz. Er trug höfische Trauerkleidung aus dünnen Stoffen, die zum nördlichen Sommer passten: schwarze Stiefel, schwarze Leinenhosen, eine ärmellose schwarze Tunika, abgesetzt mit dünnen Strängen aus lavendelfarbener Kordel; außerdem hatte er eine fliederfarbene Schärpe mit schwarzen Quasten um die Taille geschlungen. Zu dieser heißen Mittagsstunde hatte er auf den schweren lavendelfarbenen Mantel verzichtet, obwohl ein besorgter Goram neben ihm verweilte und das Kleidungsstück gefaltet über dem Arm trug. Goram hatte das Haar seines Herrn wieder zu jener nach hinten geflochtenen eleganten Frisur gerichtet, wie Ista es beim ersten Mal gesehen hatte. Der grau durchsetzte schwarze Zopf auf dem Rücken wurde von einem lavendelfarbenen Band gehalten. Illvin richtete sich auf, als er sie sah, und begrüßte sie mit einer angedeuteten höfischen Verbeugung. Sie hatte den Verdacht, dass es die Benommenheit infolge des Blutverlustes war, die die Geste abkürzte.
»Was soll das bedeuten?«, fragte sie misstrauisch.
»Wie bitte, liebste Königin? Ich hatte nicht gedacht, dass Ihr schwer von Begriff seid. Wie sieht es denn aus?«
»Ihr werdet mich nicht begleiten.«
Er lächelte auf sie herab. »Es würde ein außerordentlich schlechtes Licht auf die Ehre von Porifors werfen, würden wir die Königinwitwe von ganz Chalion-Ibra ohne eine Begleitung in die Gefangenschaft schicken.«
»Das habe ich auch gesagt«, grollte Liss.
»Ihr habt nun den Oberbefehl über die Festung«, widersprach Ista. »Gewiss könnt Ihr jetzt nicht Euren Posten verlassen.«
»Porifors ist ein heilloses Durcheinander. Da gibt es nur noch wenig, was sich verteidigen lässt. Außerdem sind mir nicht genug Männer geblieben, die es noch verteidigen könnten. Allerdings würde ich es vorziehen, wenn Sordso das nicht so rasch erfährt. Die Verhandlung für Eure Übergabe heute Morgen hat uns kostbare Stunden erkauft, die wir nicht mit Blut hätten einhandeln können. Wenn das also Porifors’ letztes Gefecht sein soll, dann beanspruche ich, mit einigem Recht, daran teilzuhaben. Durch die unglücklichen, aber unabänderlichen Gegebenheiten während meines letzten Planes konnte ich nicht mitreiten, um zwischendurch noch die Taktik anzupassen. Aber das gilt diesmal nicht.«
»Wärt Ihr mitgeritten, hätte es am Ergebnis nichts geändert.«
»Ich weiß.«
Beunruhigt musterte sie ihn. »Seid Ihr vielleicht in einer sonderbaren Stimmung und versucht, Euren Bruder zu übertreffen?«
Читать дальше