»Das«, erklärte Richard kalt, »wäre mir recht …«
Der Mann entspannte sich. »… als zeitweise Unterbringung. Jetzt«, sagte Richard, »lassen Sie uns über die Entschädigung für mein verlorengegangenes Eigentum reden.«
Die neue Wohnung war viel schöner als die, die er damals zurückgelassen hatte. Sie hatte mehr Fenster und einen Balkon, ein geräumiges Wohnzimmer und ein richtiges Gästezimmer. Richard lief unzufrieden hin und her.
Der Mann-ohne-Kamelhaarmantel hatte die Wohnung äußerst widerwillig mit einem Bett, einem Sofa, mehreren Stühlen und einem Fernseher ausstatten lassen.
Richard legte Hunters Messer auf den Kaminsims.
Er kaufte sich bei dem indischen Restaurant gegenüber ein Currygericht zum Mitnehmen, setzte sich auf den Teppichboden seiner neuen Wohnung, aß und fragte sich, ob er wirklich jemals spät in der Nacht auf einem Straßenmarkt auf dem Deck eines an der Tower Bridge liegenden Kriegsschiffes Curry gegessen hatte. Es schien nicht sehr wahrscheinlich, wenn er recht darüber nachdachte.
Es klingelte an der Tür. Er stand auf und öffnete.
»Wir haben einen Großteil Ihrer Sachen gefunden, Mr. Mayhew«, sagte der Mann, der wieder seinen Kamelhaarmantel trug. »Es hat sich herausgestellt, daß sie eingelagert wurden. Also, bringt das Zeug herein, Jungs.«
Zwei stämmige Männer schleppten mehrere große, mit Richards Sachen gefüllte Teekisten herein.
»Danke«, sagte Richard.
Er griff in die erste Kiste, und der erste Gegenstand, den er auswickelte, stellte sich als gerahmte Photographie von Jessica heraus. Er starrte sie eine Weile an, und dann legte er sie wieder in die Kiste zurück.
Schließlich fand er die Kiste mit seiner Kleidung und packte sie aus, die anderen jedoch blieben mitten im Zimmer stehen. Von Tag zu Tag bekam er ein schlechteres Gewissen, weil er sie nicht auspackte. Aber er tat es trotzdem nicht.
Er saß in seinem Büro am Schreibtisch und starrte aus dem Fenster, als die Gegensprechanlage summte. »Richard? « sagte Sylvia. »Der Chef hat in zwanzig Minuten in seinem Büro ein Meeting anberaumt, um den Wandsworth-Bericht zu besprechen.«
»Ich komme«, sagte er.
Dann nahm er, weil er die nächsten zehn Minuten nichts anderes zu tun hatte, einen orangen Troll und bedrohte einen ein wenig kleineren grünhaarigen Troll damit.
»Ich bin der größte Krieger von Unter-London. Mach dich auf den sicheren Tod gefaßt!« sagte er mit gefährlich trolliger Stimme und wackelte mit dem orangen Troll. Dann nahm er den grünhaarigen Troll und sagte: »Aha! Aber erst trinkst du eine schöne Tasse Tee …«
Jemand klopfte an die Tür, und schlechten Gewissens stellte er die Trolle wieder hin.
»Herein!«
Die Tür ging auf, und Jessica kam herein und blieb im Türrahmen stehen. Sie sah nervös aus.
Er hatte vergessen, wie schön sie war.
»Hallo, Richard«, sagte sie.
»Hallo, Jess«, sagte Richard, und dann verbesserte er sich. »Entschuldigung – Jessica.«
Sie lächelte und warf die Haare zurück. »Oh, Jess ist in Ordnung«, sagte sie und sah aus, als würde sie das beinahe ernst meinen. »Jessica – Jess. Mich hat schon ewig keiner mehr Jess genannt. Ich vermisse es beinahe.«
»Und«, sagte Richard, »was bringt, welche Ehre, dich her, ähm.«
»Ich wollte dich eigentlich nur sehen.«
Er wußte nicht recht, was er sagen sollte. »Das ist nett«, sagte er.
Sie schloß die Bürotür und ging ein paar Schritte auf ihn zu. »Richard. Weißt du was? Es ist seltsam, aber ich erinnere mich, die Verlobung gelöst zu haben. Ich weiß jedoch kaum noch, worüber wir uns gestritten haben.«
»Nein?«
»Das ist allerdings auch gar nicht wichtig. Oder?« Sie schaute sich im Büro um. »Du bist befördert worden.«
»Ja.«
»Das freut mich für dich.« Sie griff in ihre Manteltasche und zog eine kleine braune Schachtel hervor. Sie stellte sie auf Richards Schreibtisch.
Er öffnete die Schachtel, obgleich er wußte, was darin war.
»Das ist unser Verlobungsring. Ich dachte, nun ja, vielleicht gebe ich ihn dir zurück und dann, also, wenn alles wieder in Ordnung käme, na ja, vielleicht würdest du ihn mir eines Tages wiedergeben.«
Er glitzerte im Sonnenlicht: Der größte Betrag, den er je für etwas ausgegeben hatte.
Er schloß die Schachtel und gab sie ihr zurück.
»Behalte du ihn, Jessica«, sagte er. Und dann: »Es tut mir leid.«
Sie biß sich auf die Unterlippe. »Hast du jemanden kennengelernt?«
Er zögerte. Er dachte an Lamia und Hunter und Anaesthesia und sogar an Door, doch keine von denen war in dem Sinne ein Jemand, wie sie es meinte.
»Nein. Niemand anders«, sagte er. Und dann sagte er und bemerkte gleichzeitig, daß es wahr war: »Ich habe mich nur verändert, mehr nicht.«
Seine Gegensprechanlage summte. »Richard? Wir warten auf Sie.«
Er drückte auf den Knopf. »Komme sofort, Sylvia.« Er sah Jessica an.
Sie sagte nichts. Vielleicht traute sie es sich nicht zu, noch etwas zu sagen. Sie ging hinaus, und sie schloß leise die Tür hinter sich.
Richard nahm mit einer Hand die Papiere, die er brauchen würde. Mit der anderen Hand fuhr er sich übers Gesicht, als ob er etwas wegwischte: Kummer vielleicht, oder Tränen, oder Jessica.
Er begann wieder mit der U-Bahn zur Arbeit und zurück zu fahren. Allerdings kaufte er sich morgens und abends keine Zeitungen mehr. Lieber musterte er die Gesichter der anderen Leute im Zug und fragte sich, ob sie alle aus Ober-London stammten, fragte sich, was hinter ihren Augen vorging. Ein paar Tage nach seiner Begegnung mit Jessica glaubte er in der abendlichen Rush-hour Lamia am anderen Ende des Waggons zu sehen, mit dem Rücken zu ihm, die dunklen Haare hochgesteckt und das Kleid lang und schwarz. Sein Herz begann in seiner Brust zu hämmern.
Er drängelte sich durch das voll besetzte Abteil. Als er näher kam, fuhren sie in eine Haltestelle ein, und sie stieg aus. Doch es war nicht Lamia: bloß so ein junges Londoner Goth-Mädchen, stellte er enttäuscht fest, unterwegs zu einem Abend in der Stadt.
Eines Mittwochs sah er auf den Mülltonnen hinter den Newton Mansions eine große braune Ratte sitzen, die dreinschaute, als gehörte ihr die Welt.
Als Richard sich ihr näherte, sprang sie auf den Gehweg, wartete im Schatten der Mülltonne und starrte ihn aus schwarzen Augen an. Richard hockte sich hin.
»Hallo«, sagte er sanft. »Kennen wir uns?«
Die Ratte sagte nichts, aber sie lief auch nicht weg.
»Ich heiße Richard«, fuhr er mit leiser Stimme fort. »Ich bin kein richtiger Rattensprecher, aber ich, ähm, kenne ein paar Ratten, und ich wüßte gern, ob du eine Bekannte von Lady Door bist …«
Er hörte hinter sich einen Schuh scharren, und als er sich umdrehte, bemerkte er die Buchanans, die ihn neugierig anschauten.
»Haben Sie … etwas verloren?« fragte Mrs. Buchanan.
Richard hörte das barsche Flüstern ihres Mannes: »Nur ein paar Tassen aus dem Schrank«, doch er beachtete es nicht.
»Nein«, sagte Richard ehrlich. »Ich habe … jemandem Guten Tag gesagt, einer …«
Die Ratte huschte davon.
»War das eine Ratte?« bellte George Buchanan. »Ich werde mich bei der Behörde beschweren. Es ist eine Schande. Das ist wieder typisch London, was?«
Ja, pflichtete Richard ihm bei. Typisch.
Seine Sachen standen weiterhin unausgepackt in Teekisten mitten in seinem Wohnzimmer.
Er schaltete den Fernseher nicht ein. Er kam abends nach Haus und aß etwas. Dann stand er am Fenster und schaute hinaus auf London, auf die Autos und die Dächer und die Lampen, während die Dämmerung zur Nacht wurde und in der ganzen Stadt die Lichter angingen. Und schließlich zog er sich widerstrebend aus, stieg ins Bett und schlief ein.
Eines Freitagnachmittags kam Sylvia in sein Büro.
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