»Wann können wir?« fragte Richard.
»Sobald du bereit bist«, sagte der Abt.
Die Mönche hatten seine Sachen gewaschen und geflickt und sie ihm zurückgegeben. Bruder Fuliginous führte ihn durch das Kloster und eine schwindelerregende Folge von Leitern und Treppen hinauf bis in den Glockenturm. In der Spitze des Glockenturms befand sich eine Bodenklappe, und durch die preßten sie sich hindurch und landeten in einem schmalen Tunnel, in dessen Wand auf einer Seite Metallstufen eingelassen waren. Sie kletterten die Wand hoch und kamen auf einem dunklen U-Bahnsteig wieder heraus.
NIGHTINGALE LANE stand auf den alten Schildern an der Wand. Bruder Fuliginous wünschte Richard alles Gute und wies ihn an, dort zu warten, bis er abgeholt würde. Richard saß zwanzig Minuten lang auf dem Bahnsteig und fragte sich, warum sich der Marquis nicht von ihm verabschiedet hatte.
Als er Door diese Frage gestellt hatte, hatte sie erklärt, sie wisse es nicht, aber vielleicht sei Abschiednehmen ebenso wie das Trösten von Menschen etwas, worin der Marquis nicht sehr gut sei.
Dann sagte sie ihm, sie habe etwas im Auge, und sie gab ihm einen Zettel mit Anweisungen und ging fort.
Etwas winkte aus der Finsternis. Etwas Weißes. Es war ein Taschentuch an einem Stock.
»Hallo?« rief Richard.
Old Bailey trat in Federn gehüllt und rundlich aus der Dunkelheit. Er wirkte unsicher und befangen. Er winkte mit Richards Taschentuch.
»Das ist meine kleine Flagge«, sagte er.
»Freut mich, daß Sie es so gut gebrauchen können.«
Old Bailey grinste beklommen. »Gut. Wollte nur sagen. Hab’ was für dich. Hier.«
Er steckte die Hand in eine Manteltasche und zog eine lange schwarze Feder mit einem blau-lila-grünen Schimmer hervor. Ein roter Faden war um das Kielende der Feder gewickelt.
»Ähm. Ja, danke«, sagte Richard, der nicht genau wußte, was er damit anfangen sollte.
»Das ist eine Feder«, erklärte Old Bailey. »Und zwar eine gute. Erinnerung. Souvenir. Andenken. Und sie ist umsonst. Ein Geschenk. Von mir an dich. Eine Art Dankeschön.«
»Ja. Also. Sehr freundlich.« Er steckte sie in die Tasche. Ein warmer Wind blies durch den Tunnel. Ein Zug näherte sich.
»Das ist dein Zug«, sagte Old Bailey. »Ich selber fahre nicht mit dem Zug. Ich bevorzuge Dächer.«
Er schüttelte Richard die Hand und ergriff die Flucht.
Der Zug fuhr ein. Alle Waggons waren dunkel, und keine Tür öffnete sich. Richard klopfte an die Tür vor seiner Nase, in der Hoffnung, daß es die richtige war.
Die Tür ging auf, und die verlassene Haltestelle wurde von einem warmen gelben Licht überflutet. Zwei ältere Herren mit langen Signalhörnern in der Hand stiegen aus. Richard erkannte sie: Dagvard und Halvard, vom Earl’s Court; konnte sich allerdings nicht mehr erinnern, wer wer war. Sie setzten die Hörner an die Lippen und bliesen falsch, aber ehrlich eine Fanfare.
Richard stieg in den Zug, und sie folgten ihm.
Der Earl saß am Ende des Waggons und tätschelte seinen Wolfshund. Der Hofnarr – Tooley, dachte Richard, das war sein Name – stand neben ihm. Abgesehen von ihnen und den zwei Rittern war der Waggon menschenleer.
»Wer ist da?« fragte der Earl.
»Er ist es, Sire«, sagte sein Narr. »Richard Mayhew. Der, der das Ungeheuer getötet hat.«
»Der Krieger?« Der Earl kratzte seinen rotgrauen Bart. »Bringt ihn her.«
Richard ging zu dem Sessel des Earl. Der Earl musterte ihn nachdenklich von Kopf bis Fuß, und nichts deutete darauf hin, daß er sich daran erinnerte, Richard schon einmal begegnet zu sein.
»Ich dachte, Ihr wärt größer«, sagte der Earl schließlich.
»Tut mir leid.«
»Nun denn, fangen wir an.« Er stand auf und wandte sich an den leeren Waggon. »Guten Abend. Wir sind hier, den jungen Maybury zu ehren. Wie sagt doch der Barde? « Und dann rezitierte er rhythmisch dröhnend: »Bäche des Blutes brechen hervor, flink fällt der Feind, rettender, ruhmvoller Recke, kühnster Knabe … Ein Knabe ist er allerdings eigentlich nicht, was, Tooley?«
»Nicht direkt, Euer Gnaden.«
Der Earl streckte die Hand aus. »Gebt mir Euer Schwert, mein Freund.«
Richard faßte sich an den Gürtel und zog das Messer heraus, das Hunter ihm geschenkt hatte. »Geht das auch?« fragte er.
»Ja-ja«, sagte der alte Mann und nahm es entgegen.
»Hinknien!« soufflierte Tooley und deutete auf den Boden des Zuges. Richard ließ sich auf ein Knie nieder.
Der Earl tippte ihm mit dem Messer sanft auf beide Schultern. »Steht auf«, brüllte er, »Sir Richard of Maybury. Mit diesem Messer verleihe ich Euch die Freiheit der Unterseite. Es sei Euch erlaubt, Euch ohne Hindernisse und Hürden frei zu bewegen … und so weiter und so fort … et cetera … blah blah blah.« Seine Stimme erstarb.
»Danke«, sagte Richard. »Eigentlich heiße ich Mayhew. «
Doch der Zug hielt.
»Hier müßt Ihr aussteigen«, sagte der Earl. Er gab Richard sein Messer zurück und klopfte ihm auf den Rücken.
Der Ort, an dem Richard ausstieg, war keine U-Bahn-Haltestelle. Er lag über der Erde. Ein wenig erinnerte er Richard an den Bahnhof St. Pancras – die Architektur hatte etwas ähnlich Überdimensionales und Pseudogotisches. Aber auch etwas Verkehrtes, das ihn irgendwie als Teil von Unter-London kennzeichnete.
Das Licht war von dem seltsamen Grau, das man kurz vor dem Morgengrauen und nach dem Sonnenuntergang sieht, wenn die Welt verwaschen ist und Farben und Entfernungen sich nicht mehr einschätzen lassen.
Ein Mann saß auf einer Bank und starrte ihn an, und Richard näherte sich ihm vorsichtig, denn in dem Grau konnte er nicht erkennen, wer es war. Richard hielt immer noch Hunters Messer – sein Messer – in der Hand, und um sich zu beruhigen, packte er das Heft jetzt noch fester.
Der Mann schaute hoch, als Richard näherkam, und sprang auf. Es war Lord Rattensprecher. »Nun-nun. Ja-ja«, sagte der Rattensprecher erregt. »Wollte nur sagen, das Mädchen Anaesthesia. Nichts für ungut. Die Ratten sind immer noch Ihre Freunde. Und die Rattensprecher. Kommen Sie nur zu uns. Wir tun für Sie, was wir können.«
»Danke«, sagte Richard. Lord Rattensprecher hantierte auf der Bank herum und präsentierte Richard eine schwarze Sporttasche mit Reißverschluß, die ihm überaus vertraut vorkam.
»Es ist alles da. Alles. Sehen Sie nach.«
Richard öffnete die Tasche. All seine Besitztümer waren darin, einschließlich seiner Brieftasche, die zuoberst auf einer sauber gefalteten Jeans lag. Er zog den Reißverschluß zu, warf sich die Tasche über die Schulter und ging fort, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Er trat aus dem Bahnhof und stieg ein paar Stufen hinab.
Alles war still. Alles war leer. Totes Herbstlaub wehte über den Vorplatz, ein gelbes, ockerfarbenes und braunes Flirren. Er überquerte den Platz und ging ein paar Stufen in eine Unterführung hinunter. Etwas flatterte im Halbdunkel.
Richard drehte sich mißtrauisch um. Es war etwa ein Dutzend, in dem Gang hinter ihm, und sie glitten fast lautlos auf ihn zu, nur ein Rascheln dunklen Samtes und ein gelegentliches Glitzern von Silberschmuck verriet, daß sie da waren. Sie beobachteten ihn mit hungrigen Augen.
Da bekam er Angst. Sicher, er hatte das Messer. Aber er konnte damit ebensowenig kämpfen, wie er in der Lage war, über die Themse zu springen. Er hoffte, daß es ihnen wenigstens Angst einjagen würde.
Er roch Geißblatt und Maiglöckchen und Moschus.
Lamia schob sich in die erste Reihe der Velvets und trat vor. Richard hob das Messer. Die Kälte ihrer Umarmung fiel ihm wieder ein.
Sie lächelte ihn an und neigte anmutig den Kopf. Dann zwinkerte sie ihm zu, küßte ihre Fingerspitzen und blies den Kuß zu ihm hinüber.
Er schauderte.
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