»Bitte, Herrin«, winselte er, »gebietet über mich.«
Zum allerersten Mal in seinem neuen Leben empfand Kahlan etwas, als sie ihn betrachtete: Verachtung.
Das einzige Geräusch, das über den ansonsten vollkommen still daliegenden Lagerplatz wehte, war das leise, verängstigte Meckern Bettys. Das gesamte Gelände schien mit Leichen bedeckt; der Überfall hatte offenbar ein Ende gefunden. Das Schwert noch in der Hand, hastete Richard quer durch das Blutbad zu Kahlan. Jennsen stand am Rand des Feuerscheins, während Cara prüfte, ob sich in den zahllosen Körpern noch Anzeichen von Leben regten.
Kahlan ließ den Krieger, den sie soeben mit ihrer Kraft berührt hatte, im Morast kniend zurück und begab sich mit staksigen Schritten hinüber zu Jennsen. Richard kam ihr auf halbem Weg entgegen und legte ihr erleichtert einen Arm um die Hüfte.
»Alles in Ordnung?«
Sie nickte.
»Und du?«
Richard schien ihre Frage gar nicht zu hören. Sein Arm glitt von ihrer Hüfte. »Bei den Gütigen Seelen«, stieß er hervor und lief hinüber zu einem der regungslos auf der Seite liegenden Männer.
Sabar.
Nicht weit entfernt stand Jennsen, vor Bestürzung zitternd, das Messer wie zur Abwehr erhoben, die Augen entsetzt aufgerissen. Kahlan zog sie in ihre Arme und redete mit leisen, beruhigenden Worten auf sie ein, daß es vorüber sei, daß sie nichts mehr zu befürchten habe und ihr nichts zugestoßen sei.
Jennsen hielt sich krampfhaft an ihr fest. »Sabar – er hat versucht, mich zu beschützen ...«
Kahlan tröstete sie. »Ich weiß, ich weiß.«
Dann sah sie, wie Richard ihn mit ruhigen Bewegungen auf den Rücken wälzte. Der Arm des jungen Mannes fiel kraftlos zur Seite. Kahlans Mut sank.
Völlig außer Atem kam Tom ins Lager gelaufen, über und über mit Blut und Schweiß besudelt. Einen unglücklichen Aufschrei auf den Lippen, warf Jennsen sich ihm in die Arme. Er zog sie beschützend an sich, hielt ihren Kopf an seine Schulter und versuchte, wieder zu Atem zu kommen – ohne das Dunkel ringsum auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen.
Cara dagegen war die Ruhe in Person; das Fehlen jeglicher Hast, mit dem sie zu Werke ging, ließ keinen Zweifel aufkommen, daß alle Angreifer, ohne Ausnahme, tot waren.
Kahlan legte Richard eine tröstliche Hand auf den Rücken, als er neben Sabar in die Hocke ging und mit leiser Verbitterung in der Stimme fragte: »Wie viele Menschen müssen eigentlich noch für das Verbrechen sterben, in Freiheit leben zu wollen – für die Sünde, ihr Leben selbst bestimmen zu wollen?«
Sie sah, daß er das Schwert der Wahrheit noch immer krampfhaft mit einer Hand umklammert hielt. Die Magie des Schwertes, die sich anfangs nur zögerlich gezeigt hatte, funkelte auch weiterhin bedrohlich in seinen Augen.
»Wie viele?«, stieß er aufgebracht hervor.
»Ich weiß es nicht, Richard«, antwortete Kahlan leise.
Richard warf einen wütenden Blick zu dem Kerl auf der anderen Seite des Lagers hinüber, der noch immer auf den Knien lag und aus Angst, den Mund aufzumachen, mit flehentlich aneinander gepreßten Händen darum bettelte, man möge über ihn gebieten.
Einmal berührt von einer Konfessorin, wurde der Betreffende vollständig seiner früheren Persönlichkeit beraubt – dieser Teil seiner Erinnerung war für alle Zeiten gelöscht. Wer oder was der Betreffende einst auch gewesen sein mochte, es existierte schlicht nicht mehr.
An dessen Stelle setzte die Magie der Konfessorinnenkraft die unbedingte Unterwerfung unter die Wünsche und Bedürfnisse der Konfessorin, die ihn berührt hatte. Nichts sonst zählte. Sein ganzer Lebenszweck reduzierte sich auf das ausschließliche und bedingungslose Befolgen ihrer Befehle: zu tun, was immer sie anordnete, und jede ihrer Fragen zu beantworten.
Niemand, der auf diese Weise berührt worden war, würde es wagen, ein Verbrechen auf Geheiß einer Konfessorin nicht augenblicklich zu gestehen – nur zu diesem Zweck waren sie einst geschaffen worden. In gewisser Hinsicht verfolgten sie das gleiche Ziel wie der Sucher: die Wahrheit. Um zu überleben, gab es im Krieg, wie auch in allen anderen Bereichen des Lebens, kein wichtigeres Gut.
Der Kerl, der nicht weit entfernt am Boden kniete, wand sich in kriecherischer Unterwürfigkeit, denn bisher hatte Kahlan nichts von ihm verlangt. Eine abscheulichere Seelenpein, eine beängstigendere Leere als die, ihre Wünsche nicht zu kennen, war für ihn unvorstellbar; ohne ihre Wünsche entbehrte sein Dasein jeglichen Sinns. Nicht selten gingen von einer Konfessorin berührte Männer ohne ihre Befehle jämmerlich zu Grunde.
Was immer sie jetzt von ihm verlangte, sei es die Preisgabe seines eigenen Namens oder den seiner wahren Geliebten oder die Ermordung seiner geliebten Mutter, würde ihn in einen Zustand grenzenlosen Glücks versetzen, denn dann hätte er endlich eine Aufgabe, die er auf ihr Geheiß erfüllen konnte.
»Fragen wir ihn, was mit dem Überfall bezweckt werden sollte«, meinte Richard mit leisem Knurren und setzte sich in Bewegung, blieb aber gleich darauf unvermittelt wieder stehen. Dort, vor ihm im Staub, lagen die Überreste jener kleinen Statuette, die Sabar ihnen mitgebracht hatte. Sie war in hundert Einzelteile zerbrochen und – wenn man davon absah, daß die Splitter noch immer lichtdurchlässig und bernsteinfarben waren – bis zur Unkenntlichkeit zerstört.
Nicci hatte in ihrem Brief angedeutet, daß sie die Statuette nicht mehr benötigten, nachdem sie ihre Warnung übermittelt hatte – eine Warnung, der zufolge Kahlan offenbar einen Schutzschild durchbrochen hatte, hinter dem etwas überaus Bedrohliches unter Verschluß gehalten wurde.
Was dieser Schild hatte schützen sollen, wußte Kahlan nicht, sie befürchtete jedoch, nur zu gut zu wissen, womit sie ihn durchbrochen hatte.
Viel mehr allerdings befürchtete sie, schuld am allmählichen Versagen der Magie von Richards Schwert zu sein.
Als sie auf die bernsteinfarbenen, in den Staub getretenen Scherben starrte, überkam sie eine Woge der Verzweiflung.
Richard legte ihr einen Arm um die Hüfte. »Laß deine Phantasie nicht mit dir durchgehen. Bislang wissen wir doch gar nicht, was das zu bedeuten hat. Wir wissen nicht einmal sicher, ob es überhaupt zutrifft – womöglich handelt es sich um eine Art Mißverständnis.«
Kahlan wünschte, sie hätte es glauben können.
Schließlich schob Richard sein Schwert in die Scheide zurück. »Möchtest du dich vielleicht erst ein wenig hinsetzen und ausruhen?«
Seit dem Tag ihrer ersten Begegnung hatte seine Sorge um sie Vorrang vor allem anderen gehabt; im Augenblick jedoch war sie eher um sein Wohlergehen besorgt.
Das Entfesseln ihrer Kraft zehrte stets an der physischen Verfassung einer Konfessorin: diesmal jedoch fühlte Kahlan sich nicht nur stark geschwächt, sondern ihr war geradezu übel. Sie war nicht zuletzt deswegen in das Amt der Mutter Konfessor berufen worden, weil ihre hervorragend ausgeprägte Kraft es ihr erlaubte, sie schon nach wenigen Stunden wiederherzustellen, während andere dafür einen ganzen Tag oder sogar deren zwei benötigten. Der Gedanke an all die anderen Konfessorinnen, von denen sie manchen sehr zugetan gewesen war und die längst nicht mehr lebten, verstärkte ihr Gefühl trostloser Hoffnungslosigkeit noch.
Um ihre Kraft vollständig wiederherzustellen, würde sie mindestens eine Nacht durchschlafen müssen, doch im Augenblick gab es wichtigere Dinge zu bedenken, nicht zuletzt Richards Zustand.
»Nein«, gab sie zurück. »Es geht mir gut. Ausruhen kann ich auch später noch. Fragen wir ihn, was immer du wissen willst.« Der unerträgliche Gestank, unter den sich der Geruch einer im Lagerfeuer vor sich hin schwelenden Leiche mischte, steigerte Kahlans Übelkeit von Sekunde zu Sekunde. »Und anschließend sollten wir zusehen, daß wir diesen schaurigen Ort verlassen«, sagte sie. »Wir müssen von hier fort, schließlich ist nicht auszuschließen, daß noch weitere Krieger auftauchen.« Zumal sie befürchtete, seine Magie könnte ihn, falls er gezwungen wäre, sein Schwert erneut zu ziehen, endgültig im Stich lassen. »Wir müssen uns einen geschützteren Lagerplatz suchen.«
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