Gawyn stieß einen leisen Pfiff aus, während Siuan die Hände in die Hüften stemmte und verärgert aussah. »Wo habt Ihr denn die her?«
»Ich habe sie von den Frauen im Tross machen lassen«, erklärte Bryne. »Es ist immer ratsam, ein paar feindliche Uniformen zu haben.«
Siuan verschränkte die Arme. »Das ist einfach nicht richtig. Der Dienst in der Burgwache ist eine heilige Pflicht. Sie …«
»Sie sind der Feind, Siuan«, sagte Bryne streng. »Zumindest für den Augenblick. Ihr seid nicht mehr die Amyrlin.«
Sie warf ihm einen bösen Blick zu, hielt aber den Mund.
Bryne musterte die Soldaten, dann nickte er zufrieden. »Aus der Nähe wird das keinen täuschen, aber aus der Ferne reicht das. Raus auf die Straße und zu Reihen aufgestellt. Eilt auf die Burg zu, als wolltet ihr schnell in die Schlacht eingreifen. Siuan, eine Lichtkugel oder zwei würden bei der Tarnung helfen - wenn die, die uns sehen, eine Aes Sedai an der Spitze entdecken, werden sie eher glauben, was wir ihnen vorgaukeln wollen.«
Sie schnaubte, erfüllte die Bitte aber und erschuf zwei Lichtkugeln, die sie zu beiden Seiten ihres Kopfes schweben ließ. Bryne gab den Befehl, und die ganze Gruppe strömte aus der Gasse und formierte sich zu den verlangten Reihen. Gawyn, Bryne und Siuan nahmen Positionen an der Spitze ein - Gawyn und der General ein paar Schritte vor Siuan, als wären sie ihre Behüter -, und im Laufschritt eilten sie los.
Alles zusammengenommen war es eine gute Illusion. Auf den ersten Blick hätte Gawyn die Verkleidung akzeptiert. Was konnte es Natürlicheres geben als eine Abteilung der Burgwache, die zum Ort des Angriffs marschiert, angeführt von einer Aes Sedai und ihren Behütern? Auf jeden Fall war es besser als der Versuch, einhundert Männer ungesehen durch irgendwelche Gassen durch die Stadt schleichen zu lassen.
Als sie sich dem Burggelände näherten, betraten sie einen Albtraum. Die dichten Rauchschwaden reflektierten roten Feuerschein und hüllten die ganze Burg in einen blutroten Dunst. Löcher und Furchen verunstalteten die Mauern des einst so majestätischen Gebäudes; aus mehreren Öffnungen loderten Flammen. Raken beherrschten den Himmel und umrundeten den Turm wie Möwen, die auf dem Meer einen toten Wal umkreisen. Schreie und Rufe durchdrangen die Luft, und der dichte beißende Rauch kratzte in Gawyns Hals.
Brynes Männer wurden langsamer, je näher sie kamen. Bei dem Kampf schien es zwei Schlachtfelder zu geben. Am Fuß des Turms mit den beiden angebauten Flügeln flammten ständig Lichtblitze auf. Das Gelände war übersät mit Toten und Verletzten. Und weit oben ungefähr in der Turmmitte spuckten mehrere Risse im Mauerwerk Feuerbälle und Lichtblitze gegen die Angreifer. Der Rest des Turms erschien stumm und tot, obwohl in den Korridoren sicherlich gekämpft wurde.
Vor einem der Eisentore der Weißen Burg kam die Gruppe zum Stehen. Die Tore standen weit offen und waren unbewacht. Das erschien unheilvoll. »Und jetzt?«, fragte Gawyn flüsternd.
»Wir finden Egwene«, antwortete Siuan. »Wir fangen im Erdgeschoss an, dann begeben wir uns in die Kelleretagen. Sie war heute irgendwo dort unten eingesperrt, und das sollte der erste Ort sein, an dem wir nachsehen.«
Steinsplitter lösten sich von der Decke und regneten auf den Tisch, als der nächste Treffer die Weiße Burg erschütterte. Saerin fluchte und wischte das Geröll weg, dann entrollte sie ein Pergament und beschwerte seine Ecken mit ein paar Fliesentrümmern.
In dem Raum um sie herum herrschte blankes Chaos. Sie befanden sich im Erdgeschoss, im vorderen Versammlungsraum, einem großen rechteckigen Gemach am Übergang zwischen Ostflügel und Turm. Angehörige der Burgwache schoben Tische aus dem Weg, um Platz für die Gruppen zu machen, die den Raum passierten. Aes Sedai schauten misstrauisch aus den Fenstern und beobachteten den Himmel. Behüter wanderten wie eingesperrte Tiere umher. Was sollten sie gegen fliegende Bestien tun? Hier waren sie am besten aufgehoben, als Beschützer des Kommandopostens. Sofern man den Raum so bezeichnen wollte. Saerin war gerade erst eingetroffen.
Eine Grüne Schwester rauschte auf sie zu. Moradri war eine Mayenerin mit langen Gliedmaßen und dunkler Haut, und sie wurde von zwei ansehnlichen Behütern begleitet, bei denen es sich ebenfalls um Mayener handelte. Gerüchten zufolge waren die beiden ihre Brüder, die zur Weißen Burg gekommen waren, um ihre Schwester zu beschützen; allerdings äußerte sich Moradri nie zu diesem Thema.
»Wie viele?«, verlangte Saerin zu wissen.
»Im Erdgeschoss mindestens siebenundvierzig Schwestern«, berichtete Moradri. »Von allen Ajahs. Genauer konnte ich sie nicht zählen, denn sie kämpfen in kleinen Gruppen. Ich habe ihnen gesagt, dass wir hier einen zentralen Kommandoposten einrichten. Die meisten schienen es für eine gute Idee zu halten, obwohl viele zu müde, zu entsetzt oder einfach zu fassungslos waren, um mit mehr als einem Nicken reagieren zu können.«
»Tragt ihre Positionen auf diesem Plan hier ein«, sagte Saerin. »Habt Ihr Elaida gefunden?« Moradri schüttelte den Kopf.
»Verdammt«, murmelte Saerin, als das Bauwerk erneut erbebte. »Was ist mit den Sitzenden der Grünen?«
»Ich konnte keine von ihnen finden«, sagte Moradri und warf einen Blick über die Schulter, offensichtlich begierig, sich wieder den Kämpfenden anzuschließen.
»Schade. Schließlich bezeichnen sie sich gern als die Kampf-Ajah. Nun, also bleibt es mir überlassen, diesen Kampf zu organisieren.«
Moradri zuckte mit den Schultern. »Sieht so aus.« Wieder schaute sie zurück.
Saerin musterte die Grüne Schwester, dann tippte sie auf den Plan. »Zeichnet die Positionen ein, Moradri. Ihr könnt gleich wieder kämpfen, aber im Moment ist Euer Wissen wichtiger. «
Die Grüne seufzte, dann fing sie aber an, schnell Markierungen zu zeichnen. Während sie damit beschäftigt war, sah Saerin erfreut, dass Hauptmann Chubain eintrat. Für seine mehr als vierzig Winter sah der Mann noch jugendlich aus; in seinem schwarzen Haar war keine graue Strähne zu finden. Manche Männer neigten dazu, sich wegen seines zu guten Aussehens abschätzig über seine Fähigkeiten zu äußern; Saerin hatte von den Demütigungen gehört, die sein Schwert diesen Männern für ihre Beleidigungen erteilt hatte.
»Ah, gut«, sagte sie. »Endlich klappt einmal etwas. Hauptmann, kommt doch bitte zu mir.«
Er hinkte heran, schonte sein linkes Bein. Der weiße Wappenrock über dem Kettenhemd war angesengt; sein Gesicht war rußverschmiert. »Saerin Sedai«, sagte er und verneigte sich.
»Ihr seid verwundet.«
»Angesichts der Ehre eines solches Kampfes eine bedeutungslose Wunde, Aes Sedai.«
»Lasst Euch trotzdem Heilen«, befahl sie. »Es wäre lächerlich, wenn unser Hauptmann der Wache wegen einer bedeutungslosem Wunde den Tod riskiert. Wenn sie Euch kurz stolpern lässt, könnten wir Euch verlieren.«
Der Mann trat näher an sie heran und senkte die Stimme. »Saerin Sedai, in diesem Kampf ist die Burgwache so gut wie nutzlos. Da die Seanchaner diese … grauenhaften Frauen benutzen, kommen wir nur selten an sie heran, bevor wir in Stücke gerissen oder zu Asche verbrannt werden.«
»Dann müsst Ihr eben Eure Taktik ändern, Hauptmann«, sagte Saerin entschlossen. Beim Licht, was für eine Katastrophe! »Befehlt den Männern, sie sollen Bogen nehmen. Geht nicht das Risiko ein, den Machtlenkern des Feindes zu nahe zu kommen. Schießt aus der Ferne. Ein einziger Pfeil könnte diese Schlacht zu unseren Gunsten wenden; zahlenmäßig sind wir ihren Soldaten auf groteske Weise überlegen.«
»Ja, Aes Sedai.«
»Es ist einfache Logik, wie eine Weiße vermutlich sagen würde. Hauptmann, unsere wichtigste Aufgabe liegt darin, einen zentralen Befehlsposten einzurichten. Aes Sedai und Soldaten huschen unabhängig voneinander umher, verhalten sich wie von Wölfen gejagte Ratten. Wir müssen gemeinsam handeln.«
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