Die nächste Ecke, und beinahe rannte sie aus einem Loch in der Außenwand. Am Abgrund schwankend, schaute sie auf einen Himmel voller schrecklicher Ungeheuer und Feuerblitze. Mit einem Aufschrei warf sie sich von der Öffnung zurück. Rechts von ihr übersäten Steintrümmer den Boden. Sie stolperte über das Geröll. Der Korridor führte in diese Richtung weiter! Sie musste…
Eine Abschirmung schob sich wuchtig zwischen sie und die Quelle, und dieses Mal rastete sie ein. Adelorna keuchte auf und ging taumelnd zu Boden. Man konnte sie nicht gefangen nehmen! Man würde sie nicht gefangen nehmen! Alles, nur das nicht!
Sie schleppte sich weiter, aber ein Strom Luft schlang sich um ihren Knöchel und schleifte sie zurück über die zerbrochenen Fliesen. Nein! Man zerrte sie direkt zu den Soldaten, die jetzt von zwei mit Leinen verbundenen Frauenpaaren begleitet wurden, jedes Paar bestand aus einer Frau in einem grauen und einer in einem roten und blauen Kleid, das ein Blitzmuster aufwies.
Eine weitere Frau in Rot und Blau kam auf sie zu. In den Händen hielt sie etwas Silbriges. Adelorna schrie fassungslos auf, stemmte sich gegen die Abschirmung. Die Frau ging in aller Ruhe auf die Knie und ließ einen Silberkragen um Adelornas Hals zuschnappen.
Das konnte nicht geschehen! Das durfte nicht geschehen!
»Ah, sehr schön«, sagte die Frau in einem schleppenden Akzent. »Ich heiße Gregana, und du wirst Sivi sein. Sivi wird eine gute Damane sein. Das erkenne ich sofort. Lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet, Sivi.«
»Nein«, wisperte Adelorna.
»Ja.« Gregana lächelte zufrieden.
Und dann löste sich der Kragen völlig unerwartet von Adelornas Hals und fiel zu Boden. Einen Augenblick lang sah Gregana völlig verblüfft aus, bevor sie ein Feuerball verschlang.
Adelorna riss die Augen weit auf und wich vor der plötzlichen Hitze zurück. Vor ihr sackte eine Leiche in einem roten und blauen Kleid qualmend und nach verbranntem Fleisch stinkend zu Boden. Erst da wurde sich Adelorna einer außerordentlich mächtigen Quelle der Macht hinter ihr bewusst.
Die Eindringlinge schrien auf, die Frauen in Grau webten Abschirmungen. Das erwies sich als Fehler, denn ihre Leinen lösten sich, als peitschende Ströme aus Luft ihre Verschlüsse mit gauklerhafter Geschicklichkeit öffneten. Einen Herzschlag später verschwand eine der Frauen in Rot und Blau in einem Lichtblitz, während die andere von Flammenzungen eingehüllt wurde, und zwar mit einer Schnelligkeit, die an zubeißende Schlangen erinnerte. Sie starb schreiend, und ein Soldat rief etwas. Offensichtlich handelte es sich um einen Rückzugsbefehl, denn die Soldaten ergriffen die Flucht und ließen die beiden Frauen zurück, die von den Strömen aus Luft von ihren Leinen befreit worden und jetzt völlig verängstigt waren.
Zögernd drehte sich Adelorna um. Ein paar Schritte entfernt stand eine Frau in Weiß auf dem Schutthaufen, umgeben von einer gewaltigen Aura der Macht, den Arm in Richtung der flüchtenden Soldaten ausgestreckt. Ihr Blick war wild. Die Frau stand da wie die personifizierte Vergeltung, eingehüllt in einen Sturm aus Saidars Macht. Die Luft selbst schien zu leuchten, und ihr braunes Haar flatterte im Wind, der durch die Mauerlücke strich. Egwene al’Vere.
»Schnell«, sagte Egwene. Eine Gruppe Novizinnen kletterte über das Geröll und half Adelorna wieder auf die Füße. Erstaunt stand sie da. Sie war frei! Andere Novizinnen eilten los und ergriffen die beiden von der Leine befreiten Frauen in Grau - die seltsamerweise einfach dort knien blieben. Sie konnten die Macht lenken; Adelorna konnte das unmissverständlich wahrnehmen. Warum wehrten sie sich nicht? Stattdessen schienen sie zu weinen.
»Bringt sie zu den anderen«, befahl Egwene, stieg über die Trümmer und schaute durch die Lücke in der Wand. »Ich will…« Sie erstarrte und hob die Hände.
Plötzlich traten weitere Gewebe um Egwene zum Vorschein. Beim Licht! War das etwa Vorsas Sa’angreal in ihrer Hand, das weiße Zepter? Wo hatte Egwene denn das her? Lichtblitze zuckten aus ihrer geöffneten Hand und schossen durch die Öffnung, dann kreischte draußen etwas auf. Adelorna trat an ihre Seite und umarmte die Quelle; sie kam sich wie eine Närrin vor, weil sie sich hatte gefangen nehmen lassen. Egwene schlug erneut zu, und ein weiteres dieser fliegenden Ungeheuer stürzte in die Tiefe.
»Und wenn sie Gefangene tragen?«, fragte Adelorna und sah zu, wie eine der Bestien in Egwenes Flammen eingehüllt abstürzte.
»Dann sind diese Gefangenen tot besser dran«, sagte Egwene und sah sie an. »Glaubt mir. Ich weiß das.« Sie wandte sich den Novizinnen zu. »Alle weg von dem Loch. Diese Blitze könnten Aufmerksamkeit erregt haben. Shanal und Clara, ihr beobachtet diese Lücke aus der Ferne. Rennt zu uns, falls hier To’raken landen. Greift sie auf keinen Fall an.«
Zwei Mädchen nickten und nahmen ihre Positionen in den Trümmern ein. Die anderen eilten los und zogen die beiden seltsamen Frauen der Invasoren mit sich. Egwene schloss sich ihnen an, wie ein General hinter den Schlachtreihen. Und vielleicht war sie das sogar. Adelorna beeilte sich, den Anschluss nicht zu verlieren. »Nun«, sagte sie, »das habt Ihr hübsch organisiert, Egwene, obwohl es gut ist, dass jetzt eine Aes Sedai…«
Egwene erstarrte. Diese Augen, sie blickten so ruhig, so kontrolliert. »Bis diese Bedrohung vorbei ist, habe ich das Kommando. Ihr werdet mich als Mutter ansprechen. Ihr könnt mir später eine Buße auferlegen, wenn Ihr das müsst, aber im Augenblick darf meine Autorität nicht infrage gestellt werden. Ist das klar?«
Und zu ihrer eigenen Überraschung sagte Adelorna, ohne zu zögern: »ja, Mutter!«
»Gut. Wo sind Eure Behüter?«
»Einer ist verwundet«, antwortete Adelorna. »Einer ist bei den anderen in Sicherheit. Einer ist tot.«
»Beim Licht, Frau, und da seid Ihr noch auf den Beinen?« Adelorna drückte den Rücken durch. »Habe ich eine Wahl?«
Egwene nickte. Warum erweckte ihr respektvoller Blick in Adelorna das Gefühl, gleich vor Stolz bersten zu müssen?
»Nun, ich bin froh, dass ich Euch habe«, sagte Egwene und setzte sich wieder in Bewegung. »Wir haben nur sechs Aes Sedai gerettet, und davon gehört keine zu den Grünen, und wir haben Probleme, die Seanchaner im östlichen Treppenhaus festzuhalten. Eine der Novizinnen wird Euch zeigen, wie man die Leinen aufschließt; geht aber kein Risiko ein. Grundsätzlich ist es einfacher - und viel sicherer -, die Damane zu töten. Wie vertraut seid Ihr mit den Lagerräumen für die Angreale?«
»S ogar sehr vertraut«, erwiderte Adelorna.
»Ausgezeichnet«, sagte Egwene und webte beiläufig ein Gewebe von einer Komplexität, wie sie Adelorna nur selten gesehen hatte. Ein Lichtbalken durchschnitt die Luft, verdrehte sich und schuf ein Loch, das in Finsternis hineinführte. »Lucain, lauft und sagt den anderen, dass sie warten sollen. Ich bringe gleich neue Angreale.«
Eine brünette Novizin nickte und eilte los. Adelorna starrte noch immer das Loch an. »Schnelles Reisen«, sagte sie ausdruckslos. »Ihr habt es tatsächlich entdeckt. Ich habe die Berichte für Tagträume gehalten.«
Egwene sah sie an. »Ich hätte Euch das nie gezeigt, aber ich habe soeben den Bericht erhalten, dass Elaida das Wissen über dieses Gewebe verbreitet hat. Damit ist das Schnelle Reisen kein Geheimnis mehr. Das bedeutet, dass die Seanchaner es vermutlich jetzt auch haben, vorausgesetzt, sie haben welche der Frauen erwischt, denen es Elaida beigebracht hat.«
»Muttermilch in einer Tasse!«
»In der Tat«, sagte Egwene. Ihr Blick war eisig. »Wir müssen sie aufhalten und jeden To’raken vernichten, den wir sehen, ob sie Gefangene tragen oder nicht. Wenn es auch nur eine Möglichkeit gibt, sie daran zu hindern, mit jemandem nach Ebou Dar zurückzukehren, der das Reisen beherrscht, dann müssen wir sie ergreifen.« Adelorna nickte.
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