Am wichtigsten war für Egwene, dass sie jetzt Zugriff auf die Macht hatte. Eine ordentliche Menge, beinahe genauso viel, wie sie normalerweise gewöhnt war - ohne Spaltwurzel. Sie lächelte voller Vorfreude und fing an zu weben, und die Komplexität ihrer Gewebe ließ einige der Mädchen vor Ehrfurcht staunen. »Was ihr hier seht, ist etwas, das ihr nicht ausprobieren werdet«, warnte Egwene, »nicht einmal jene von euch, die die Zirkel anführen. Das ist viel zu schwierig und gefährlich.«
Ein Strich Licht spaltete die Luft am Ende des Korridors und rotierte. Egwene hoffte, dass sich das Wegetor am richtigen Ort öffnete; sie richtete sich nach Siuans Schilderung, die etwas oberflächlich gewesen war; allerdings hatte sie ja auch noch Elaynes ursprüngliche Ortsbeschreibung.
»Außerdem«, fuhr sie streng fort, »werdet ihr dieses Gewebe vor niemandem ohne meine ausdrückliche Erlaubnis wiederholen, nicht einmal vor anderen Aes Sedai.« Allerdings bezweifelte sie, dass es überhaupt ein Problem sein würde, denn das Gewebe war sehr kompliziert, und nur wenige Novizinnen würden bereits die Fähigkeiten haben, es zu wiederholen.
» Mutter?«, quiekte ein Mädchen namens Tamala. » Ergreift Ihr die Flucht?« In ihrer Stimme lag Angst, aber vor allem die Hoffnung, dass Egwene sie in diesem Fall mitnahm.
»Nein«, erwiderte Egwene energisch. »Ich komme sofort wieder zurück. Und wenn ich zurückkomme, will ich mindestens fünf gute fertige Zirkel sehen!«
Und mit Nicola und den anderen beiden Mädchen im Schlepptau trat Egwene durch das Wegetor in einen dunklen Raum. Sie webte eine Lichtkugel, und die Helligkeit enthüllte ein Lager mit Regalen an den Wänden. Erleichtert seufzte sie. Sie hatte den richtigen Ort gefunden.
Die Regale waren mit seltsam geformten Gegenständen gefüllt. Kristallkugeln, kleine exotische Statuetten, hier ein gläserner Anhänger, der das Licht blau widerspiegelte, dort ein umfangreicher Satz metallene Handschuhe, deren Manschetten mit Feuertropfen geschmückt waren. Egwene ging los und ließ die drei Novizinnen mit staunenden Blicken zurück. Vermutlich konnten sie spüren, was Egwene bereits wusste - das waren Gegenstände der Einen Macht. Ter ‘angreale, Angreale, Sa’angreale. Relikte aus dem Zeitalter der Legenden.
Egwene ließ den Blick über die Regalreihen schweifen. Gegenstände der Macht waren berüchtigt dafür, sich nur unter großen Gefahren benutzen zu lassen, wenn man nicht genau wusste, was sie vollbringen konnten, feder Einzelne dieser Gegenstände konnte sie umbringen. Wenn sie doch nur …
Mit einem breiten Lächeln trat sie an ein Regal und nahm ein weißes, gerilltes Zepter von der Länge ihres Unterarms vom obersten Brett. Sie hatte es gefunden! Andächtig hielt sie es einen Augenblick lang, dann griff sie durch es hindurch nach der Einen Macht. Eine unfassbare, beinahe überwältigende Flut strömte in sie hinein.
Yeteri keuchte deutlich hörbar, als sie es spürte. Nur wenige Frauen hatten jemals so viel Macht gehalten. Wie ein tiefer Atemzug fuhr sie in Egwene hinein. Entfachte in ihr das Verlangen, wie ein Löwe zu brüllen. Mit einem breiten Grinsen schaute sie die drei Novizinnen an. »Jetzt sind wir bereit!«, verkündete sie.
Sollten die Sul’dam nur versuchen, sie abzuschirmen, solange sie eines der mächtigsten Sa’angreale hielt, die die Aes Sedai besaßen. Solange sie die Amyrlin war, würde die Weiße Burg nicht fallen! Nicht ohne einen Kampf wie die Letzte Schlacht selbst.
Siuan fand Gawyns Zelt hell erleuchtet vor; Schatten zuckten bei jeder Bewegung des Mannes über die Wände. Sein Zelt stand verdächtig nah an dem Wachtposten; er durfte innerhalb der Palisaden wohnen, vermutlich, damit Bryne - und die Wächter - ihn im Auge behalten konnten.
Bryne, der nun einmal der sture Teufelsfisch war, der er war, war natürlich nicht zu seinen Männern gegangen, wie sie ihm befohlen hatte. Stattdessen war er ihr fluchend gefolgt und hatte dabei nach seinen Offizieren gerufen, statt sie am Posten zu treffen. Als sie vor dem Zelt des jungen Gawyn stehen blieb, trat er an ihre Seite, die Hand auf dem Schwertgriff. Ungehalten sah er sie an. Nun ja. Sie würde sich bestimmt nicht von ihm vorschreiben lassen, wie sie sich ehrenvoll zu verhalten hatte! Sie würde tun, was ihr gefiel.
Auch wenn Egwene später sehr, sehr wütend auf sie sein würde. Am Ende wird sie mir dafür danken, dachte Siuan. »Gawyn!«, brüllte sie.
Der ansehnliche junge Mann kam hüpfend aus dem Zelt geschossen, weil er seinen linken Stiefel noch nicht richtig anhatte. In der Hand hielt er das in der Scheide steckende Schwert, der Schwertgürtel an der Taille saß noch nicht richtig. »Was ist los?«, fragte er und sah sich im Lager um. »Ich habe Rufe gehört. Werden wir angegriffen?«
»Nein«, erwiderte Siuan. »Aber vermutlich Tar Valon.«
»Egwene!«, rief Gawyn und fädelte eilig den Gürtel durch die letzten Schlaufen. Beim Licht, der junge kannte wirklich nur ein Thema.
Siuan verschränkte die Arme, »junge, ich stehe in Eurer Schuld, weil Ihr mich aus Tar Valon herausgeholt habt. Wenn ich Euch dabei helfe, nach Tar Valon hineinzukommen, sind wir dann quitt?«
»Auf jeden Fall«, erwiderte Gawyn begierig und hakte das Schwert fest. »Da bekommt Ihr sogar noch etwas heraus!«
Sie nickte. »Dann besorgt uns Pferde. Nur für uns beide.«
»Ich riskiere es«, sagte Gawyn. »Endlich!«
»Das ist hirnverbrannt, dafür kriegt Ihr meine Pferde nicht!«, sagte Bryne streng.
Siuan ignorierte ihn. »In den Ställen sind Pferde, die den Aes Sedai gehören, Gawyn«, sagte sie. »Holt mir eines von ihnen. Aber ein sanftes Tier. Ein sehr, sehr sanftes Tier.«
Gawyn nickte und rannte in die Nacht. Siuan folgte ihm viel langsamer und schmiedete Pläne. Das wäre alles so viel einfacher gewesen, hätte sie ein Wegetor erschaffen können, aber dafür war sie nicht stark genug in der Macht. Vor ihrer Dämpfung war sie das durchaus gewesen, aber sich zu wünschen, dass die Dinge anders waren, war ungefähr so nützlich wie der Wunsch, dass der gefangene Silberhecht stattdessen eine Forelle war. Man verkaufte, was man hatte, und war zufrieden und glücklich, überhaupt etwas gefangen zu haben.
Bryne ging neben ihr her. Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? »Siuan«, sagte er leise. »Hört doch zu. Das ist Wahnsinn! Wie wollt Ihr überhaupt dort hineingelangen?«
»Shemerin ist ja auch hinausgekommen.«
»Das war aber vor der Belagerung.« Bryne klang richtig verzweifelt, »jetzt ist der Ort viel besser bewacht.«
Siuan schüttelte den Kopf. » Shemerin wurde ständig überwacht. Sie ist durch ein Wassertor hinaus; ich wette, es ist immer noch unbewacht. Ich habe nie davon gehört, und ich war die Aymrlin. Ich besitze einen Plan, auf dem das Tor markiert ist.«
Bryne zögerte. Dann verhärtete sich seine Miene. »Das spielt keine Rolle. Allein habt ihr beiden trotzdem keine Chance.«
»Dann begleitet uns«, sagte Siuan.
»Ich werde keinen Anteil daran haben, dass Ihr schon wieder Eure Eide brecht.«
» Egwene sagte, dass wir etwas unternehmen könnten, wenn es den Anschein hat, dass sie in Gefahr schwebt, hingerichtet zu werden«, sagte Siuan. »Sie hat mir gesagt, dass sie sich dann von uns retten lassen wird! Nun, so wie sie heute Abend bei unserem Treffen verschwunden ist, neige ich zu der Annahme, dass sie in Gefahr schwebt.«
»Aber daran ist nicht Elaida schuld, sondern die Seanchaner!«
»Das wissen wir doch gar nicht genau.«
»Unwissenheit ist keine Entschuldigung«, sagte Bryne streng und trat näher an sie heran. »Ihr seid viel zu schnell mit dem Eidbruch bei der Hand, Siuan, und ich will nicht, dass Euch das zur Gewohnheit wird. Ob Aes Sedai oder nicht, ob ehemalige Amyrlin oder nicht, Menschen müssen Regeln und Grenzen haben. Ganz davon zu schweigen, dass Euch dieser Versuch vermutlich umbringen wird!«
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