Gareth Bryne stand aufmerksam da, die Klinge mit dem Reiher gezogen und bereit. Er trug nur seinen Lendenschurz, und sie musste sich davon abhalten, seinen muskulösen Körper anzustarren, der in viel besserer Form als bei den meisten nur halb so alten Männern war. »Was ist los?«, fragte er angespannt.
»Beim Licht!«, sagte Siuan. »Ihr schlaft mit Eurem Schwert?«
»Immer.«
» Egwene ist in Gefahr.«
»Was für eine Gefahr?«
»Das weiß ich nicht«, musste sie zugeben. »Wir trafen uns, und plötzlich verschwand sie. Ich glaube … ich glaube, Elaida hat sich entschieden, sie hinzurichten. Oder hat sie zumindest aus ihrer Zelle geholt und … ihr etwas angetan.«
Bryne fragte nicht nach Einzelheiten. Er schob das Schwert einfach wieder in die Scheide zurück, dann schlüpfte er in Hosen und Hemd. Siuan trug noch immer ihren nun zerknitterten blauen Rock mit der Bluse - es war zur Gewohnheit geworden, sich nach den Begegnungen mit Egwene auszuziehen, sobald Bryne schlief.
Eine Unruhe suchte sie heim, die sie nicht genau erklären konnte. Warum war sie nur so nervös? Es war nicht ungewöhnlich, dass Menschen geweckt wurden, während sie schliefen.
Aber die meisten Menschen waren auch nicht Egwene. Sie war eine Meisterin der Welt der Träume. Wenn sie etwas unerwartet geweckt hatte, hätte sie sich darum gekümmert und wäre danach zurückgekehrt, um Siuan zu beruhigen. Aber das war nicht geschehen, obwohl Siuan scheinbar eine Ewigkeit gewartet hatte.
Bryne trat vor sie; nun trug er seine grauen Hosen und den Uniformmantel. Er knöpfte den hohen Kragen zu; auf der linken Brustseite steckten drei Sterne, auf den Schultern goldene Epauletten.
Von draußen rief eine hektische Stimme. »General Bryne! Mein Lord General!«
Bryne schenkte ihr noch einen Blick, dann wandte er sich dem Zelteingang zu. »Kommt rein!«
Ein jugendlicher Soldat mit ordentlich geschnittenem schwarzen Haar drängte sich in das Zelt und salutierte flüchtig. Er entschuldigte sich nicht für die späte Störung - Brynes Männer wussten, dass sich ihr General darauf verließ, dass sie ihn falls nötig weckten. »Mein Lord«, sagte der Mann. »Berichte von den Spähern. In der Stadt tut sich etwas.«
»›Etwas‹, Rijids?«, fragte Bryne.
»Die Späher sind sich nicht sicher, mein Lord«, sagte der Mann und verzog das Gesicht. »Der Himmel ist bewölkt, die Nacht dunkel, und Ferngläser nutzen nicht viel. In der Nähe der Burg wurden Lichtblitze gesehen, wie das Schauspiel von Illuminatoren. Dunkle Schatten in der Luft.«
»Schattengezücht?«, fragte Bryne und verließ eilig das Zelt. Der Soldat und Siuan mit ihrer Leuchtkugel folgten ihm. Vom Mond würde ohnehin kaum ein Splitter zu sehen sein, und mit den allgegenwärtigen Wolken war es schwierig, überhaupt etwas zu erkennen. Die Offizierszelte um sie herum waren schlummernde dunkle Erhebungen, und das einzig wirklich erkennbare Licht waren die Wachfeuer der Wächter am Palisadeneingang.
»Es könnte Schattengezücht sein, mein Lord«, sagte der Soldat und trabte hinter Bryne her. »Geschichten berichten von Schattenkreaturen, die auf solche Weise fliegen. Die Späher sind sich jedoch nicht sicher, was sie da sehen. Aber die Lichtblitze gibt es auf jeden Fall.«
Bryne nickte und ging in Richtung der Wachfeuer. »Alarmiert die Nachtwache; ich will sie in Rüstung und aufgesessen, nur für alle Fälle. Schickt Läufer zu den Stadtbefestigungen. Und bringt mir mehr Informationen!«
»Ja, mein Lord.« Der Soldat salutierte und lief los.
Brynes Gesicht wurde von der über Siuans Hand schwebenden Leuchtkugel angestrahlt. »Schattengezücht würde es nicht wagen, die Weiße Burg anzugreifen«, sagte er. »Nicht ohne ausreichende Bodentruppen, und ich bezweifle doch sehr, dass sich hunderttausend Trollocs in der geringen Deckung dieses ebenen Geländes verbergen. Also was geht hier verflucht noch mal vor?«
»Seanchaner«, sagte Siuan und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Fischscheiße, Gareth! Das muss es sein. Egwene hat es prophezeit.«
Er nickte. »Ja. Einigen Gerüchten zufolge reiten sie auf Schattengezücht.«
»Fliegende Bestien«, sagte Siuan, »kein Schattengezücht. Egwene hat erzählt, dass man sie Raken nennt.«
Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu, sagte aber bloß: »Warum sollten die Seanchaner so dumm sein, ohne zusätzliche Bodentruppen anzugreifen?«
Siuan schüttelte den Kopf. Sie war immer von der Annahme ausgegangen, dass ein Angriff der Seanchaner auf die Weiße Burg eine riesige Invasionsstreitmacht bedeutete, und Egwene hatte geglaubt, dass der Angriff noch Monate in der Zukunft lag. Beim Licht! Offensichtlich konnte auch Egwene sich irren.
Bryne wandte sich den Wachfeuern zu, die sich nun höher in die Nacht erhoben und ihr Licht auf die Palisade warfen. Im Inneren der Pfahlmauer erhoben sich Offiziere und weckten die Nachbarszelte. Lampen und Laternen erwachten flackernd zum Leben.
»Nun, solange sie Tar Valon angreifen, sind sie nicht unser Problem. Wir müssen nur …«
»Ich hole sie raus«, sagte da Siuan und überraschte sich selbst mit diesen Worten.
Bryne fuhr auf dem Absatz zu ihr herum und tauchte wieder in den Lichtschein ihrer Leuchtkugel. Auf seinem Kinn zeigten sich Bartstoppeln. »Was?«
»Egwene«, sagte Siuan. »Wir müssen sie dort herausholen. Das ist die perfekte Ablenkung, Gareth! Wir können dort reingehen und sie schnappen, ohne dass es jemand merkt.«
Er sah sie nur an.
»Was?«
»Ihr habt Euer Wort gegeben, sie nicht zu retten, Siuan.« Beim Licht, es fühlte sich wirklich gut an, wenn er ihren Namen benutzte!
Konzentration!, schalt sie sich. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie ist in Gefahr und braucht Hilfe.«
» Sie will unsere Hilfe aber nicht«, sagte Bryne streng. »Wir müssen uns darum kümmern, dass unserer Streitmacht nichts geschieht. Die Amyrlin ist davon überzeugt, dass sie allein zurechtkommt.«
»Das glaubte ich auch«, erwiderte Siuan. »Und seht, wohin mich das gebracht hat.« Sie schüttelte den Kopf und schaute zum fernen Turm von Tar Valon. Undeutlich konnte sie einen kurz aufflackernden Lichtblitz dort ausmachen. »Wenn Egwene von den Seanchanern spricht, dann erschaudert sie immer. Nur wenig kann sie erschüttern - nicht die Verlorenen und auch nicht der Wiedergeborene Drache. Gareth, Ihr habt ja keine Vorstellung, was die Seanchaner mit Frauen machen, die die Macht lenken können.« Sie erwiderte seinen Blick. »Wir müssen sie holen.«
»Damit will ich nichts zu tun haben«, sagte er stur.
»Auch gut«, fauchte Siuan. Dieser Narr! »Dann kümmert Euch um Eure Männer. Ich glaube, ich weiß, wer mir helfen wird.« Und sie ging los, zu einem Zelt innerhalb der Palisade.
Egwene stützte sich an der Korridorwand ab, als der Turm erneut erbebte. Die Steine selbst erzitterten. Mörtel regnete von der Decke, eine Fliese fiel von der Wand und zersplitterte zu tausend Scherben. Nicola schrie auf und klammerte sich an Egwene fest.
»Der Dunkle König!«, kreischte sie. »Die Letzte Schlacht! Sie ist da! «
»Nicola!«, fauchte Egwene und richtete sich wieder auf. »Beherrscht Euch. Das ist nicht die Letzte Schlacht. Das sind die Seanchaner.«
»Die Seanchaner?«, stammelte Nicola. »Aber ich habe immer geglaubt, sie wären bloß ein Gerücht!«
Alberne Göre, dachte Egwene und eilte in einen Seitengang hinein. Nicola rannte mit ihrer Lampe hinter ihr her. Egwene hatte sich richtig erinnert, und der nächste Korridor befand sich an der Ecke des Turms und wies ein Fenster auf. Sie bedeutete Nicola, sich an die Wand zu drücken, dann riskierte sie einen Blick in die Dunkelheit hinaus;
Wie erwartet schwebten dunkle geflügelte Schatten am Himmel. Sie waren zu groß für Raken. Also To’raken. Sie schossen in die Tiefe; um sie herum wirbelten Gewebe, die für Egwenes Augen pulsierend leuchteten. Feuerblitze bildeten sich und erhellten weibliche Paare, die auf den Rücken der To’raken ritten. Damane und Sul’dam.
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