Einige Männer würden während der Wartezeit an ihren Wunden sterben. Daran konnte er nichts ändern. Die meisten von ihnen würden hoffentlich von den Aes Sedai der Weißen Burg Geheilt werden. Natürlich würde man sie danach in den Kerker sperren, aber es gab keine andere Möglichkeit. Diese Truppe musste in Bewegung bleiben, und es war keine Zeit, die Verwundeten auf Bahren zu tragen.
»Dritte und vierte Abteilung«, fing er an und verstummte dann. Eine vertraute Gestalt im blauen Rock rauschte aus der Burg und zerrte ein Mädchen in Weiß hinter sich her. Natürlich sah Siuan mittlerweile kaum älter als das Mädchen aus. Manchmal hatte Bryne Probleme damit, sie mit der strengen Frau in Einklang zu bringen, die er vor Jahren kennengelernt hatte.
Von einer Woge der Erleichterung erfasst, ging er ihr entgegen. »Wer ist das?«, wollte er wissen. »Wo seid ihr gewesen?«
Siuan schnalzte nur mit der Zunge, befahl der Novizin, dort stehen zu bleiben, und nahm Bryne zur Seite, um leise mit ihm zu sprechen. »Eure Soldaten waren beschäftigt, und ich hielt es für eine gute Gelegenheit, um Informationen zu beschaffen. Und ich muss sagen, dass wir noch an Eurer Einstellung arbeiten müssen, Gareth Bryne. Es gehört sich nicht für einen Behüter, so mit seiner Aes Sedai zu sprechen.«
»Darüber mache ich mir dann Sorgen, wenn Ihr anfangt, Euch zu benehmen, als hättet Ihr einen Funken Verstand in Eurem Kopf, Frau. Und wenn Ihr den Seanchanern in die Arme gelaufen wäret?«
»Dann wäre ich in Gefahr gewesen«, erwiderte sie mit in die Hüften gestemmten Händen. »Das wäre nicht das erste Mal. Ich konnte nicht riskieren, dass mich andere Aes Sedai zusammen mit Euch oder Euren Soldaten sahen. So einfache Verkleidungen werden keine Schwester täuschen.«
»Und wenn man Euch erkannt hätte? Siuan, diese Leute wollten Euch hinrichten!«
Sie schnaubte. »Mit diesem Gesicht würde mich nicht einmal mehr Moiraine erkennen. Die Frauen in der Burg werden nur eine junge Aes Sedai sehen, die irgendwie vertraut erscheint. Außerdem bin ich niemandem begegnet. Nur diesem Kind hier.« Sie warf der Novizin einen Blick zu. Das Mädchen hatte kurzes schwarzes Haar und starrte entsetzt zu der Schlacht am Himmel hoch. »Hashala, kommt her«, rief Siuan.
Die Novizin eilte herbei.
»Erzählt diesem Mann, was Ihr mir verraten habt«, befahl Siuan.
»Ja, Aes Sedai«, sagte die Novizin mit einem nervösen Knicks. Brynes Soldaten bildeten eine Ehrenwache um Siuan, und Gawyn stellte sich neben den General. Die junge Frau schaute immer wieder in den todbringenden Himmel.
»Die Amyrlin, Egwene al’Vere«, sagte sie mit bebender Stimme. »Sie wurde früher am Tag aus ihrer Zelle entlassen und durfte in das Novizinnenquartier zurückkehren. Ich war unten in der Küche, als der Angriff begann, also weiß ich nicht, was mit ihr passiert ist. Aber vermutlich ist sie oben irgendwo auf der einundzwanzigsten oder zweiundzwanzigsten Ebene. Dort befinden sich jetzt die Novizinnenzimmer.« Sie verzog das Gesicht. »Das Innere der Burg ist heutzutage ein schreckliches Durcheinander. Nichts ist da, wo es sein sollte.«
Siuan erwiderte Brynes Blick. »Man hat Egwene hohe Dosen Spaltwurzel verabreicht. Sie wird kaum in der Lage sein, die Macht zu lenken.«
»Wir müssen sie finden!«, stieß Gawyn hervor.
»Offensichtlich«, sagte Bryne und rieb sich das Kinn. »Darum sind wir ja hier. Also gehen wir wohl nach oben statt nach unten.«
»Ihr seid gekommen, um sie zu retten, nicht wahr?« Die Novizin klang eifrig.
Bryne musterte sie. Kind, ich wünschte, du hättest das nicht erkannt. Er hasste die Vorstellung, eine einfache Novizin in diesem Chaos gefesselt zurücklassen zu müssen. Aber sie durften nicht riskieren, dass sie losrannte und die Aes Sedai der Weißen Burg warnte.
»Ich will mit Euch gehen«, sagte das Mädchen flehend. »Ich stehe loyal zu der Amyrlin. Der echten Amyrlin. Das gilt für die meisten von uns.«
Bryne hob eine Braue und sah Siuan an.
»Soll sie mitkommen«, sagte die Aes Sedai. »Das ist ohnehin die einfachere Lösung.« Sie fing an, dem Mädchen weitere Fragen zu stellen.
Bryne schaute zur Seite, als einer seiner Hauptmänner, ein Mann namens Vestas, auf ihn zutrat. »Mein Lord«, raunte Vestas drängend. »Wir haben zwölf Männer verloren. Weitere fünfzehn sind verwundet, können aber noch gehen und sind zu den Booten unterwegs. Sechs sind zu schlimm verletzt, um sie begleiten zu können.« Vestas zögerte. »Drei Männer werden die nächste Stunde nicht überleben, mein Lord.«
Bryne biss die Zähne zusammen. »Wir brechen auf.«
»Ich fühle diesen Schmerz, Bryne«, sagte Siuan und wandte sich ihm wieder zu. »Was ist los?«
»Wir haben keine Zeit. Die Amyrlin …«
»Kann noch einen Augenblick warten. Worum geht es?«
»Drei Männer«, sagte er. »Ich muss drei meiner Männer sterbend zurücklassen.«
»Nicht, wenn ich sie Heile«, erwiderte Siuan. »Bringt mich zu ihnen.«
Bryne gab seinen Widerstand auf, auch wenn er einen Blick gen Himmel warf. Mehrere Raken waren auf dem Burggelände gelandet und stellten undeutliche, von den Flammen beleuchtete Schemen dar. Die flüchtenden Seanchaner sammelten sich um sie.
Das waren die Truppen für den Bodenangriff, dachte er. Sie ziehen sich wahrhaftig zurück. Der Überfall endet.
Was bedeutete, dass sie keine Zeit mehr hatten. Nach dem Abzug der Seanchaner würde sofort wieder Ordnung in die Weiße Burg einkehren. Sie mussten Egwene finden! Und sollte das Licht dafür sorgen, dass sie nicht in Gefangenschaft geraten war.
Aber wenn Siuan die Soldaten Heilen wollte, dann war das ihre Entscheidung. Er hoffte bloß, dass diese drei Leben der Amyrlin am Ende nicht das Leben kostete.
Vestas hatte die drei Soldaten ein wenig abseits unter einem großen Baum zurückgelassen. Bryne nahm eine Abteilung Soldaten mit und überließ es Gawyn, den Rest der Männer zu organisieren. Er folgte Siuan. Sie kniete bereits neben dem ersten Verletzten. Ihr Geschick im Heilen war nicht groß; da hatte sie Bryne bereits vorgewarnt. Aber vielleicht konnte sie ja den Zustand der drei Männer so stabilisieren, dass sie lange genug bis zu ihrer Entdeckung und Gefangennahme durch die Weiße Burg überleben würden.
Sie arbeitete schnell, und Bryne entdeckte, dass sie wirklich übertrieben hatte. Sie schien beim Heilen durchaus anständige Arbeit zu leisten. Dennoch benötigte das Zeit. Bryne ließ die Blicke über den Hof schweifen und spürte, wie seine Nervosität wuchs. Aus den oberen Etagen wurden noch immer Feuerbälle geschleudert, aber in den unteren Etagen und auf dem Gelände herrschte Ruhe. Die einzigen Laute kamen von den stöhnenden Verwundeten und dem Prasseln der Flammen.
Beim Licht, dachte er und betrachtete die Trümmer, ließ den Blick über das Erdgeschoss der Burg gleiten. Das Dach des Ostflügels und die Seitenmauer waren eingestürzt, überall in dem Gebäude flackerten Flammen. Der Hof war voller Steintrümmer und tiefer Narben. Dichter, stinkender Rauch hing in der Luft. Würden die Ogier bereit sein, zurückzukehren und dieses prächtige Bauwerk zu reparieren? Würde es jemals wieder wie früher sein, oder war dieses scheinbar für alle Ewigkeit errichtete Monument in dieser Nacht gefallen? Verspürte er Stolz, weil er Zeuge des Untergangs geworden war, oder doch Trauer?
In der Dunkelheit neben dem Baum bewegte sich ein Schatten.
Bryne handelte, ohne nachzudenken. Drei Dinge kamen in ihm zusammen: Jahre der Übung im Schwertkampf, ein Leben erworbener Schlachtfeldreflexe und eine neue, vom Bund verstärkte Aufmerksamkeit. Alles kam in einer Bewegung zusammen. Einen Herzschlag später hatte sein Schwert die Scheide verlassen, und er vollzog Der letzte Biss der Schwarzlanze, rammte die Klinge direkt in den Hals einer dunklen Gestalt.
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