Der Soldat vor Fortuona war einer von fünfen. Hinter diesen fünf standen zweihundert Angehörige der Faust des Himmels - die Elite ihrer Angriffstruppen. Sie trugen Brustpanzer aus dunklem Leder und Helme aus leichtem Holz und Leder, die wie Insekten geformt waren. Helme und Brustpanzer waren mit dem Symbol einer geballten Faust versehen. Fünzig Paare aus Sul’dam und Damane, darunter Dali und ihre Sul’dam Malahavana, die Fortuona für die Sache gestiftet hatte. Sie hatte das Bedürfnis verspürt, dieser ungemein wichtigen Mission ein persönliches Opfer zu bringen.
Dahinter drängten sich Hunderte To’raken in den Ställen, die von ihren Führern auf den kommenden Flug vorbereitet wurden. Ein Schwarm Raken kreiste bereits anmutig am Himmel.
Fortuona schaute auf den Soldaten vor ihr hinab und legte ihm die Finger auf die Stirn, dort, wo sie ihn geküsst hatte. »Möge Euer Tod den Sieg bringen«, zitierte sie leise die rituellen Worte. »Möge Euer Messer Blut fließen lassen. Mögen Eure Kinder bis zum letzten Sonnenaufgang Euer Loblied singen.«
Er senkte den Kopf noch tiefer. Er trug schwarzes Leder, genau wie die vier anderen in der Reihe. Drei Messer hingen an seinem Gürtel, und er hatte weder Umhang noch Helm. Er war ein kleiner Mann - alle Angehörigen der Faust des Himmels waren klein und gedrungen, und über die Hälfte dieser Gruppe bestand aus Frauen. Das Gewicht war immer ein wichtiger Punkt, wenn es um Missionen mit To’raken ging. Bei einem Angriff waren zwei kleine, gut ausgebildete Soldaten einem schwerfälligen Hünen in schwerer Rüstung vorzuziehen.
Es war früher Abend, die Sonne ging gerade unter. Generalleutnant Yulan, der die Angriffsgruppe persönlich anführen würde, hielt es für besser, so spät am Tag aufzubrechen. Ihr Angriff würde in der Dunkelheit beginnen, die ihn vor allen verbergen würde, die möglicherweise den Horizont von Ebou Dar beobachteten. Einst wäre diese Vorsichtsmaßnahme unnötig gewesen. Was spielte es schon für eine Rolle, wenn Menschen in Ebou Dar sahen, wie Hunderte To’raken gen Himmel stiegen? Neuigkeiten verbreiteten sich nie schneller, als ein Raken fliegen konnte.
Aber ihre Feinde konnten viel schneller reisen, als ihnen hätte möglich sein dürfen. Ob ihnen nun ein Ter’angreal, ein Gewebe oder was auch immer diese Macht verlieh, sie stellte eine reelle Gefahr dar. Es war besser, heimlich vorzugehen. Der Flug nach Tar Valon würde mehrere Tage in Anspruch nehmen.
Fortuona ging zum Nächsten in der Reihe der fünf. Das schwarze Haar der Frau war geflochten. Fortuona küsste sie auf die Stirn und sprach die rituellen Worte. Diese fünf waren Blutmesser. Der schwarze Steinring, den jeder von ihnen trug, war ein besonderes Ter’angreal, das ihnen Stärke und Schnelligkeit verleihen würde, außerdem hüllte er sie in Dunkelheit, was ihnen erlaubte, mit den Schatten zu verschmelzen.
Diese unglaublichen Fähigkeiten forderten jedoch ihren Tribut, denn die Ringe saugten das Leben aus ihren Trägern und töteten sie im Verlauf weniger Tage. Den Ring abzunehmen würde den Prozess etwas verlangsamen, aber sobald er aktiviert war - dazu musste man den Steinring tragen und mit einem Tropfen des eigenen Blutes benetzen -, war er nicht mehr umkehrbar.
Diese fünf würden nicht mehr zurückkehren. Sie würden zurückbleiben, ganz egal, wie der Angriff auch ausging, und so viele Marath’damane töten, wie sie konnten. Das war eine schreckliche Verschwendung - diese Damane hätten an die Leine gelegt werden müssen -, aber es war besser, sie zu töten, als sie dem Wiedergeborenen Drachen zu überlassen.
Fortuona ging zum nächsten Soldaten in der kurzen Reihe und gab ihm den Kuss und den Segen.
Seit ihrer Begegnung mit dem Wiedergeborenen Drachen vor einigen Tagen hatte sich so viel verändert. Ihr neuer Name war nur eines davon. Jetzt ging sogar das Hohe Blut oft vor ihr auf die Knie. Ihre So’jhin hatten sich die Köpfe rasiert - Selucia eingeschlossen. Von jetzt an würden sie die rechte Kopfseite rasiert und das Haar auf der linken Seite wachsen lassen und es dabei flechten. Für den Augenblick trugen sie Mützen auf der linken Seite.
Das normale Volk ging mit mehr Selbstvertrauen, zeigte mehr Stolz. Sie hatten wieder eine Kaiserin. Bei allem, was mit der Welt nicht stimmte, war wenigstens das wieder in Ordnung.
Fortuona küsste den letzten der fünf Blutmesser und sprach die Worte, die sie sowohl zum Tode wie auch zum Heldentum verurteilte. Sie trat zurück, Selucia an ihrer Seite. General Yulan trat vor und verneigte sich tief. »Man soll verkünden, dass wir die Kaiserin, soll sie ewig leben, nicht enttäuschen werden.«
»Es ist vernommen worden«, sagte Selucia. »Das Licht folge euch. Wisset, dass Ihre Majestät, soll sie ewig leben, heute im Garten sah, wie eine neue Frühlingsrose drei Blätter fallen ließ. Das Omen für euren Sieg wurde gegeben. Erfüllt es, General, und Eure Belohnung wird groß sein.«
Yulan richtete sich auf und salutierte, indem er mit der Faust gegen die Brust hieb. Eisen traf auf Eisen. Er führte die Soldaten zu den Ställen der To’raken, die fünf Blutmesser vorneweg. Schon wenige Augenblicke später lief die erste Kreatur über die lange Wiese hinter den Ställen, die mit Pfosten und Wimpeln markiert war, und katapultierte sich in die Luft. Andere folgten, eine ganze Flotte, mehr, als Fortuona je am Himmel gesehen hatte. Als der letzte Sonnenstrahl erstarb, flogen sie nach Norden.
Normalerweise benutzte man Raken und To’raken nicht auf diese Weise. Bei den meisten Unternehmen setzte man die Soldaten an einem Punkt ab, an dem die To’raken warteten, während die Soldaten angegriffen und zurückkehrten. Aber dieses Unternehmen war zu wichtig. Yulans Plan verlangte nach einem waghalsigeren Angriff, wie man ihn nur selten in Betracht gezogen hatte. To’raken mit Damane und Sul’dam auf dem Rücken, die aus der Luft angriffen. Das konnte der Anfang einer kühnen neuen Taktik sein. Oder es konnte in einer Katastrophe enden.
»Wir haben alles verändert«, sagte Fortuona leise. »General Galgan irrt; das wird den Wiedergeborenen Drachen keineswegs in eine schlechtere Verhandlungsposition bringen. Er wird sich gegen uns wenden.«
»War er nicht schon zuvor gegen uns?«, fragte Selucia.
»Nein«, antwortete Fortuona. »Wir waren gegen ihn.«
»Besteht da ein Unterschied?«
»ja«, sagte Fortuona und beobachtete die Wolke aus To’raken, die am Himmel kaum noch sichtbar war. »Den gibt es. Ich fürchte, wir werden bald erleben, wie groß dieser Unterschied tatsächlich ist.«
Min saß stumm da und sah zu, wie sich Rand ankleidete. Er tat es mit angespannten und bedachten Bewegungen, die an die Schritte eines Hochseilartisten oben in der Manege erinnerten. Langsam und methodisch klappten seine Finger die linke Manschette des gestärkten weißen Hemdes hoch. Die rechte Manschette war bereits umgeschlagen; dafür sorgten schon die Diener.
Draußen näherte sich der Abend. Es war noch nicht richtig dunkel, auch wenn die Fensterläden bereits geschlossen waren. Rand griff nach dem Mantel in Schwarz und Gold, schlüpfte zuerst in den einen Ärmel, dann in den anderen. Er knöpfte ihn zu, einen Knopf nach dem anderen. Damit hatte er keine Probleme; er gewöhnte sich daran, alles nur mit einer Hand zu machen. Einen Knopf nach dem anderen. Zuerst den ersten, dann den zweiten, den dritten, den vierten … Min hatte das Gefühl, gleich schreien zu müssen. »Willst du darüber reden?«, fragte sie. Rand wandte sich nicht vom Spiegel ab. »Worüber?«
»Die Seanchaner.«
»Es wird keinen Frieden geben«, sagte er und richtete den Mantelkragen. »Ich habe versagt.« Sein Tonfall war gefühllos und doch irgendwie angespannt.
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