Er stellte die Statuette nicht zur Schau. Er trug sie einfach nur bei sich, aber Merise und die meisten anderen kannten die beinahe grenzenlose Macht, die er auf Wunsch anzapfen konnte. Man kannte keine vergleichbare Waffe. Möglicherweise hätte er damit sogar die Welt zerstören können. Und sie hing unschuldig an seinem Sattel befestigt. Das machte Eindruck auf die Leute.
»Ich … nein, das tue ich nicht«, gab sie zu. »Nicht immer.«
»Seid Ihr der Ansicht, dass man Fehler nicht bestrafen sollte?«, fragte Rand noch immer mit leiser Stimme. Warum hatte er je die Beherrschung verloren? Diese ärgerlichen Kleinigkeiten waren weder seine Leidenschaft noch seine Wut wert. Belästigte man ihn zu sehr, brauchte er sie doch einfach nur auszulöschen, wie eine Kerze.
Ein gefährlicher Gedanke. War es seiner gewesen? Oder der von Lews Therin? Oder … kam er von einem ganz anderen Ort?
»Sicherlich seid Ihr zu streng gewesen«, sagte Merise.
»Zu streng? Ist Euch klar, welchen Fehler sie gemacht hat, Merise? Habt Ihr in Betracht gezogen, was hätte passieren können? Was eigentlich hätte passieren müssen?«
»Ich …«
»Das Ende aller Dinge, Merise«, flüsterte er. »Der Dunkle König hat den Wiedergeborenen Drachen unter Kontrolle. Wir beide, die wir auf derselben Seite kämpfen.«
Sie schwieg. Dann sagte sie: »Ja. Aber was Fehler angeht, so habt Ihr selbst welche begangen. Sie hätten in ähnlichen Katastrophen enden können.«
»Ich bezahle für meine Fehler«, sagte er und wandte sich ab. »Ich bezahle jeden Tag für sie. Jede Stunde. Mit jedem Atemzug.«
»Ich …«
»Genug.« Er brüllte das Wort nicht. Er sprach energisch, aber leise. Er ließ sie die volle Macht seines Unmuts spüren, fing ihren Blick ein. Und sie sackte plötzlich auf ihrem Sattel in sich zusammen, schaute mit weit aufgerissenen Augen zu ihm hoch.
An der Seite ertönte ein lautes Bersten, gefolgt von einem plötzlichen Krachen. Schreie hallten auf. Alarmiert fuhr Rand herum. Die Stützen eines mit Zuschauern gefüllten Balkons hatten nachgegeben, er war auf die Straße gestürzt und hatte sich wie ein von einem Felsblock getroffenes Fass in seine Bestandteile aufgelöst. Menschen stöhnten vor Schmerzen, andere riefen um Hilfe. Aber die Geräusche waren von beiden Straßenseiten gekommen. Rand runzelte die Stirn und drehte sich um; direkt auf der gegenüberliegenden Seite war ein zweiter Balkon in die Tiefe gestürzt.
Merise erbleichte, dann wendete sie eilig ihr Pferd, um zu den Verletzten zu gelangen und ihnen zu helfen. Andere Aes Sedai waren bereits unterwegs, um die Opfer zu Heilen.
Rand trieb Tai’daishar an. Das war nicht durch die Macht verursacht worden, aber seine Natur als Ta’veren hatte die Wahrscheinlichkeit verändert. Wo auch immer er einen Besuch abstattete, kam es zu erstaunlichen und seltsamen Begebenheiten. Außergewöhnlich viele Geburten, Todesfälle, Heiraten und Unfälle. Er hatte gelernt, sie zu ignorieren.
Allerdings war er nur selten Zeuge eines so … gewalttätigen Zwischenfalls gewesen. Konnte er sich sicher sein, dass das nicht an irgendeiner Wechselwirkung mit der neuen Macht lag? Dieser ungesehenen und doch so verführerischen Quelle der Kraft, die er angezapft, benutzt und genossen hatte? Lews Therin war der Meinung, dass das Geschehen gerade eigentlich unmöglich hätte sein müssen.
Macht war der eigentliche Grund gewesen, warum die Menschheit das Gefängnis des Dunklen Königs angebohrt hatte. Eine neue Energiequelle, die man lenken konnte, wie die Eine Macht, nur anders. Unbekannt und seltsam, aber potenziell gewaltig. Diese Energiequelle hatte sich als der Dunkle König herausgestellt.
Lews Therin wimmerte.
Rand trug den Zugangsschlüssel aus einem ganz bestimmten Grund mit sich. Er verband ihn mit einem der größten Sa’angreale, die je erschaffen worden waren. Mit dieser Macht und Nynaeves Hilfe hatte Rand Saidin gereinigt. Der Zugangsschlüssel hatte ihm erlaubt, einen unvorstellbaren Strom anzuzapfen, einen Sturm von der Größe eines Ozeans. Es war das Großartigste, was er je erlebt hatte.
Bis zu dem Augenblick, an dem er die namenlose Macht benutzt hatte.
Diese andere Kraft sang zu ihm, rief ihn, lockte ihn. So viel Macht, solch ein göttliches Wunder. Aber sie machte ihm Angst. Er wagte es nicht, sie zu berühren, nicht noch einmal.
Also trug er den Schlüssel bei sich. Er war sich nicht sicher, welche dieser beiden Energiequellen die gefährlichere war, aber so lange beide ihn zu sich riefen, konnte er beiden widerstehen. Sie übertönten sich gegenseitig, wie zwei Leute, die brüllend seine Aufmerksamkeit forderten. Im Augenblick zumindest.
Davon abgesehen würde man ihm nie wieder einen Kragen umlegen können. Der Zugangsschlüssel hätte ihm nicht gegen Semirhage geholfen - keine wie auch immer geartete Menge der Einen Macht würde einem Mann helfen, der überrumpelt wurde -, aber vielleicht würde er ihm ja in der Zukunft nützlich sein. Früher hätte Rand nicht gewagt, ihn bei sich zu tragen, aus Angst vor dem, was er ermöglichte. Aber solche Schwächen konnte er sich einfach nicht mehr leisten.
Ihr Ziel war leicht zu erkennen; etwa fünfhundert cairhienische Waffenmänner lagerten auf dem Gelände eines geräumigen Anwesens. Aiel hatten ebenfalls dort Zelte errichtet - aber sie hatten auch ein paar der umliegenden Gebäude für sich in Anspruch genommen und mehrere Dächer. An einem Ort ein Lager aufzuschlagen war für die Aiel das Gleiche, wie ihn zu beschützen, denn ein ruhender Aiel war etwa doppelt so aufmerksam wie ein normaler Soldat auf seinem Wachtposten. Den größten Teil seiner Streitmacht hatte Rand vor der Stadt gelassen; er würde es Dobraine und seinen Bediensteten überlassen, für seine Leute im Haus Quartiere zu finden.
Rand zügelte Tai’daishar, dann betrachtete er sein neues Zuhause.
Wir haben kein Zuhause, flüsterte Lews Therin. Wir haben es zerstört. Haben es niedergebrannt, zu Schlacke geschmolzen, wie Sand in einem Feuer.
Das Anwesen war definitiv eine Klasse besser als das vorherige Herrenhaus aus Baumstämmen. Das weitläufige Grundstück war mit einem Eisenzaun umgeben. Die Blumenbeete waren leer - Blumen wollten in diesem Frühling einfach noch nicht wachsen -, aber der Rasen war grüner als die meisten, die Rand bislang gesehen hatte. Sicher, er war größtenteils gelb und braun, aber es gab auch grüne Flecken. Das Personal bemühte sich sehr, seine Anstrengungen zeigten sich auch in den Reihen von Aryth-Eiben, die man auf den Seiten des Rasens zu den Umrissen prächtiger Tiere geschnitten hatte.
Das Haus selbst war fast schon ein Palast; natürlich gab es in der Stadt bereits einen, der dem König gehörte. Angeblich war er bedeutend weniger prachtvoll als die Häuser des Kaufmannsrats. Das Banner, das oben auf dem Herrenhaus flatterte, war in hellem Gold und Schwarz gehalten und bezeichnete dies als den Sitz von Haus Chadmar. Vielleicht hatte diese Milisair die Abreise der anderen als Gelegenheit betrachtet. Falls dem so war, hatte sie damit letztlich nur eine einzige Gelegenheit bekommen: von Rand gefangen genommen zu werden.
Die Tore zum Anwesen standen offen, und die Aiel in Rands Gefolge eilten bereits hindurch und gesellten sich zu den Gruppen aus ihren Gesellschaften oder Clanmitgliedern. Es war ermüdend, dass sie nur selten auf Rands Befehle warteten, aber Aiel waren nun einmal Aiel. Die Andeutung, dass sie warten sollten, rief lediglich Gelächter hervor, als hätte er einen tollen Witz gemacht. Da konnte man einfacher den Wind zähmen, als sie dazu zu bringen, sich wie Feuchtländer zu benehmen.
Das ließ ihn an Aviendha denken. Wohin war sie so plötzlich verschwunden? Er konnte sie durch den Bund spüren, aber das Gefühl war schwach - sie war sehr weit weg. Im Osten. Was hatte sie in der Wüste zu erledigen?
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