Es gab keine Sicherheit. Sollte sie sterben, würde er sie auf die Liste setzen und darunter leiden.
Er setzte sich wieder in Bewegung, bevor Fragen gestellt wurden. Tai’daishars Hufe senkten sich auf den erdigen Untergrund, der durch die feuchte Luft nachgiebig war. Hier regnete es oft; Bandar Eban war die wichtigste Hafenstadt im Nordwesten. Auch wenn sie von der Größe her nicht mit den Städten im Süden mithalten konnte, war sie trotzdem beeindruckend. Reihen aus rechteckigen Häusern, die alle aus Holz erbaut waren und mehrere rückwärts versetzte Stockwerke aufwiesen. Sie sahen aus wie Bauklötze, die man perfekt aufeinandergestapelt hatte. Sie füllten die Stadt und senkten sich sanft dem riesigen Hafen entgegen.
Am Hafen war die Stadt am breitesten, was den Eindruck eines Männerkopfes erweckte, der den Mund weit öffnete, als wollte er den Ozean selbst austrinken. Die Docks lagen so gut wie verlassen da; die einzigen Schiffe, die dort angelegt hatten, waren Dreimaster des Meervolks und ein paar Fischerkähne. Die fehlenden Schiffe ließen den riesigen Hafen nur noch verlassener aussehen.
Das war das erste Zeichen, dass in Bandar Eban nicht alle Dinge zum Besten standen.
Abgesehen von dem so gut wie unbenutzten Hafen war das andere hervorstechende Merkmal der Stadt die Banner. Sie flatterten auf jedem Dach oder hingen von den Häusern, ganz egal, wie bescheiden sie auch sein mochten. Viele von ihnen zeigten das Handwerk an, das in dem Haus ausgeübt wurde - was in Caemlyn einfache Holzschilder getan hätten. Die Banner waren ausgesprochen extravagant, ihre hellen Farben flatterten im Wind. An den Fassaden der meisten Häuser hingen zueinander passende Banner, die an Wandteppiche erinnerten und in hellen Aufschriften Besitzer, Meisterhandwerker und Kaufmann eines jeden Ladens verkündeten. Selbst die Wohnhäuser trugen Banner mit den Namen der dort lebenden Familien.
Von kupferhäutiger und dunkelhaariger Natur, bevorzugten die Domani helle Kleidung. Domanifrauen waren für ihre Kleider berüchtigt, die durchsichtig genug waren, um empörend zu sein. Es hieß, dass sich die ganz jungen Domanimädchen in der Kunst übten, wie man Männer manipulierte, und sich so auf den Tag ihrer Volljährigkeit vorbereiteten.
Ihr Anblick auf der Straße war beinahe Spektakel genug, um Rand aus seinem Brüten zu holen. Vielleicht noch vor einem Jahr hätte auch er sie angeglotzt, aber jetzt hatte er kaum einen Blick für sie übrig. Tatsächlich kam ihm der Gedanke, dass die Domani in der Masse alles andere als eindrucksvoll waren. Eine Blume auf einem Feld voller Unkraut war immer ein beeindruckender Anblick, aber wenn man jeden Tag an gepflegten Blumenbeeten vorbeikam, nahm man sie nicht mehr richtig wahr.
So in seine Gedanken versunken er auch war, entgingen ihm trotzdem nicht die Zeichen des Hungers. Die hageren Gesichter der Erwachsenen waren genauso unmissverständlich wie der furchtsame Ausdruck in den Augen der Kinder. Noch vor wenigen Wochen hatte in dieser Stadt das Chaos geherrscht, auch wenn Dobraine und die Aiel dem Gesetz wieder Geltung verschafft hatten. Einige der Häuser wiesen hastig geflickte Fenster oder zerbrochene Bretter auf, und einige der Banner waren offensichtlich vor kurzer Zeit heruntergerissen und schlampig geflickt worden. Das Gesetz war wieder da, aber sein Fehlen war noch immer frisch in aller Erinnerung.
Rands Gruppe erreichte eine zentrale Kreuzung, bei der es sich den großen flatternden Bannern zufolge um den Arandiplatz handelte, und Dobraine führte die Prozession nach Osten. Viele der Aiel, die den Cairhiener begleiteten, trugen die roten Stirnbänder, die sie als Siswai’aman auszeichneten. Die Speere des Drachen. Rhuarc hatte ungefähr zwanzigtausend Aiel um die Stadt herum und in den umliegenden Dörfern lagern; mittlerweile würden die meisten Domani wissen, dass diese Männer dem Wiedergeborenen Drachen folgten.
Rand registrierte mit Erleichterung, dass die Klipper des Meervolks endlich mit Korn aus dem Süden eingetroffen waren. Hoffentlich würde das für genauso viel Ordnung sorgen wie Dobraine und die Aiel.
Die Prozession führte in die wohlhabenderen Stadtteile. Rand wusste, wo er sie finden würde, lange bevor die Häuser kostbarer aussahen: so weit von den Docks entfernt wie möglich, aber noch immer in einer bequemen Distanz zu den Stadtmauern. Er hätte die Reichen selbst ohne Stadtplan finden können. Die Stadtlandschaft selbst bestimmte fast schon ihre Position.
Ein Pferd schob sich an seine Seite. Zuerst hielt er es für Mins - aber nein, sie ritt weiter hinten bei den Weisen Frauen. Betrachtete sie ihn nun mit anderen Augen, oder bildete er sich das bloß ein? Musste sie jedes Mal, wenn sie sein Gesicht sah, an seine Finger um ihren Hals denken?
Es war Merise, die da auf einer gutmütigen braunen Stute ritt. Die Aes Sedai waren außer sich vor Wut, weil Rand Cadsuane ins Exil geschickt hatte. Das war keine Überraschung. Aes Sedai zeigten gern eine beherrschte und ruhige Fassade, aber Merise und die anderen waren vor Cadsuane gekrochen wie ein Dorfwirt, der einen eingekehrten König zu bewirtschaften hatte.
Die Tarabonerin trug heute demonstrativ ihre Stola und zeigte ihre Zugehörigkeit zu der Grünen Ajah. Vermutlich trug sie sie in dem Bemühen, ihre Autorität zur Schau zu stellen. Rand seufzte innerlich. Er hatte mit einer Konfrontation gerechnet, aber gehofft, dass der Umzug sie herauszögern würde, bis sich die Gemüter wieder beruhigt hatten. Er respektierte Cadsuane, zumindest auf eine gewisse Weise, aber er hatte ihr nie vertraut. Für Versagen musste es Konsequenzen geben, und er verspürte eine große Erleichterung, dass er das mit ihr geregelt hatte. Sie würde ihn nicht mehr mit ihren Strippen einwickeln.
Oder zumindest nicht mehr mit so vielen.
»Dieses Exil ist albern, Rand al’Thor«, sagte Merise respektlos. Wollte sie ihn absichtlich wütend machen, vielleicht um ihn müheloser herumschubsen zu können? Nachdem er es monatelang mit Cadsuane zu tun gehabt hatte, war die schwache Imitation dieser Frau beinahe schon amüsant.
»Ihr solltet sie um Verzeihung bitten«, fuhr Merise fort. »Sie geruht, uns weiter zu begleiten, obwohl Eure hirnverbrannten Einschränkungen sie zwingen, einen Umhang mit hochgeschlagener Kapuze zu tragen, und das trotz dieser Hitze. Ihr solltet Euch schämen.«
Typisch Cadsuane. Er hätte ihr keinen Spielraum lassen dürfen, sich um seinen Befehl herumzumogeln. »Nun?«, fragte Merise.
Rand wandte den Kopf und sah ihr in die Augen. In den vergangenen paar Stunden hatte er eine unfassbare Entdeckung gemacht. Indem er den in ihm brodelnden Zorn einsperrte - indem er zu Cuendillar wurde -, hatte er etwas begriffen, das ihm lange Zeit entgangen war.
Leute reagierten nicht auf Zorn. Sie reagierten nicht auf Forderungen. Schweigen und Fragen zu stellen war viel effektiver. Tatsächlich zuckte Merise, immerhin eine gestandene Aes Sedai, unter diesem Blick zusammen.
Er legte kein Gefühl hinein. Zorn, Wut, Leidenschaft - das war alles noch da, tief in seinem Inneren begraben. Aber er hatte es in kaltes Eis eingehüllt und bewegungsunfähig gemacht. Es war das Eis von dem Ort, zu dem ihm Semirhage den Weg gewiesen hatte, der Ort, der wie das Nichts war, nur viel gefährlicher.
Vielleicht spürte Merise den erstarrten Zorn in ihm. Vielleicht konnte sie auch die andere Sache spüren, die Tatsache, dass er diese … Macht … benutzt hatte. Ganz weit weg fing Lews Therin an zu weinen. Das tat der Verrückte immer, wenn Rand an das dachte, was er getan hatte, um Semirhages Kragen zu entkommen.
»Was Ihr da getan habt, das war dumm«, fuhr Merise fort. »Ihr solltet…«
»Also haltet Ihr mich für einen Narren?«, fragte Rand leise.
Auf Forderungen mit Schweigen reagieren, auf Herausforderungen mit Fragen. Es war erstaunlich, wie gut das funktionierte. Merise verstummte, dann schauderte sie sichtlich. Sie warf einen Blick auf den Beutel an seinem Sattel, in dem er die kleine Statuette des Mannes, der die Kugel hochhielt, aufbewahrte. Rand hielt die Zügel locker und strich sanft mit den Fingern darüber.
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