Der Turm von Ghenjei. Mat zuckte mit den Schultern. »Da dürften wir eher etwas in Vier Könige oder Caemlyn finden.«
»Ja, ich weiß. Aber Olver hat mir das Versprechen abgerungen, mich umzuhören. Hättest du Noal nicht aufgetragen, den Jungen zu beschäftigen, hätte es mich nicht gewundert, ihn in meiner Satteltasche zu finden. Er wollte wirklich unbedingt mitkommen.«
»Wo getanzt und gewürfelt wird, das ist kein Ort für einen Jungen«, murmelte Mat. »Ich wünschte nur, ich könnte mich darauf verlassen, dass die Männer im Lager ihn nicht schlimmer verderben, als es eine Schenke tun würde.«
»Nun ja, er ist ja brav zurückgeblieben, sobald Noal das Spielbrett herausholte.« Olver war fest davon überzeugt, dass er Schlangen und Füchse nur oft genug spielen musste, um eine geheime Strategie zu entdecken, mit der man die Aelfinn und Eelfinn besiegen konnte. »Der Junge glaubt noch immer, er würde uns zum Turm begleiten«, sagte Thom etwas leiser. »Er weiß, dass er keiner der Drei sein kann, aber er will draußen auf uns warten. Uns vielleicht retten, wenn wir nicht schnell genug wieder herauskommen. Ich will nicht dabei sein, wenn er die Wahrheit entdeckt.«
»Ich auch nicht«, meinte Mat. Die Bäume gaben den Blick auf ein kleines Tal mit grünen Wiesen frei, die die Hügel zu beiden Seiten weit emporklommen. Zwischen die Hänge schmiegte sich eine Stadt aus mehreren Hundert Gebäuden, durch deren Mitte ein Bergstrom floss. Die Häuser waren aus dunkelgrauem Stein erbaut und wiesen hohe Schornsteine auf, aus denen größtenteils Rauch in den Himmel stieg. Es gab Schrägdächer wegen der vermutlich sehr schneereichen Winter, obwohl jetzt nur noch auf fernen Gipfeln weiße Flecken zu sehen waren. Auf mehreren Dächern waren bereits Arbeiter fleißig damit beschäftigt, vom Winter beschädigte Schindeln zu ersetzen, und auf den Hügeln grasten Ziegen und Schafe, die von Hirtenjungen gehütet wurden.
Es waren noch ein paar Stunden Tageslicht übrig, also arbeiteten Männer an Geschäftsfassaden und Zäunen. Andere spazierten ohne jede Eile durch die Straßen. Die kleine Stadt vermittelte den entspannten Eindruck von einem Gemisch aus Fleiß und Faulheit.
Mat zügelte neben Talmanes und den Soldaten das Pferd. »Ein hübscher Anblick«, bemerkte Talmanes. »Ich glaubte schon, dass jede Stadt auf der Welt entweder zerfällt, mit Flüchtlingen überfüllt ist oder unter dem Daumen von Eroberern ächzt. Wenigstens scheint die hier nicht vor uns verschwinden zu wollen …«
»Das walte das Licht«, erwiderte Mat und dachte schaudernd an die Stadt in Altara, die vor ihren Augen verschwunden war. »Hoffen wir, dass sie nichts dagegen haben, sich mit ein paar Fremden abzugeben.« Er musterte die mitgekommenen Soldaten; es waren Rotwaffen, mit die besten, die er hatte.
Joline schnaubte, als sie auf ihrem Pferd vorbeiritt und Mat ganz bewusst keines Blickes würdigte. Sie und die anderen bewegten sich in einer engen Gruppe den Hügel hinunter.
»Das sieht nach einem Gasthaus aus«, meinte Thom und zeigte auf ein größeres Gebäude auf der östlichen Dorfseite. »Dort findet ihr mich.« Er winkte und trieb sein Pferd an, ritt mit wehendem Gauklerumhang los. Als Erster einzutreffen würde ihm die beste Möglichkeit für einen dramatischen Auftritt geben.
Mat warf Talmanes einen Blick zu, der nur mit den Schultern zuckte. Dann ritten sie den Hügel hinunter, eskortiert von den beiden Soldaten. Dank der Wegbiegung kamen sie von Südwesten. Die uralte Straße führte nordöstlich vom Dorf weiter. Es war schon seltsam, dass eine so große Straße an so einem Dorf vorbeiführte, selbst wenn die Straße alt und verfallen war. Meister Roidelle behauptete, sie würde direkt nach Andor führen. Sie war zu uneben, um als Hauptstraße benutzt zu werden, und sie kam nicht länger in die Nähe der wichtigen Metropolen, also war sie in Vergessenheit geraten. Mat segnete jedoch ihr Glück, dass sie sie gefunden hatten. Die Hauptwege aus Murandy hinaus wimmelten von Seanchanern.
Laut Roidelles Karten hatte sich Hinderstap auf die Produktion von Ziegenkäse und Hammelfleisch für die verschiedenen Städte der Region spezialisiert. Die Bewohner sollten an Fremde gewöhnt sein. Tatsächlich kamen mehrere Jungen von den Feldern gerannt, als sie Thom in seinem Gauklerumhang entdeckten. Er würde Aufsehen erregen, aber nicht mehr als gewöhnlich. An die Aes Sedai hingegen würde man sich lange erinnern.
Ach, was soll’s, dachte Mat, als er und Talmanes die von Wiesen gesäumte Straße hinunterritten. Er würde sich die Stimmung nicht vermiesen lassen; dieses Mal würde er sie sich nicht von den Aes Sedai vermiesen lassen!
Als sie das Dorf erreichten, hatte Thom bereits eine kleine Menge um sich geschart. Er stand auf seinem Sattel und jonglierte drei bunte Kugeln mit der rechten Hand, während er von seinen Reisen im Süden erzählte. Die Dorfbewohner trugen Westen und grüne Umhänge aus einem samtähnlichen Stoff. Die Kleidung sah sehr warm aus, auch wenn Mat bei näherem Hinsehen auffiel, dass vieles - Umhänge, Westen und Hosen - zerrissen und sorgfältig geflickt worden war.
Eine andere Gruppe, die hauptsächlich aus Frauen bestand, hatte sich um die Aes Sedai versammelt. Gut; Mat hatte schon befürchtet, dass die Dorfbewohner vor ihnen Angst haben würden. Einer von ihnen, der am Rand von Thoms Gruppe stand, musterte Mat und Talmanes abschätzend. Er war ein stämmiger Bursche mit dicken Armen und einem Leinenhemd, dessen Ärmel trotz der kühlen Frühlingsluft bis zu den Ellbogen aufgerollt waren. Das sich auf ihnen kräuselnde Haar passte zu seinem Bart und den Locken auf seinem Kopf.
»Ihr habt das Aussehen eines Lords«, sagte der Mann und trat an Mat heran.
»Er ist ein Pri…«, erwiderte Talmanes, bevor Mat ihm hastig das Wort abschnitt.
»Das mag schon sein«, sagte er und warf Talmanes einen Blick zu.
»Ich bin Barlden, der Bürgermeister«, sagte der Mann und verschränkte die Arme. »Ihr seid willkommen, um zu bleiben und Handel zu treiben. Aber Ihr solltet wissen, dass wir nicht viel erübrigen können.«
»Aber Ihr habt doch bestimmt etwas Käse«, meinte Talmanes. »Das ist es doch, was hier produziert wird, oder?«
»Alles, was nicht verdorben ist, brauchen wir für den Handel«, sagte Bürgermeister Barlden. »So ist das heute eben.« Er zögerte. »Aber solltet Ihr Stoff oder Kleidung haben, die Ihr eintauschen könntet, dann werden wir wohl genug zusammenkratzen können, um Euch heute eine Mahlzeit zu bereiten.«
Eine Mahlzeit?, dachte Mat. Für uns zehn? Er würde zumindest eine Wagenladung mitbringen müssen, ganz zu schweigen von dem Ale, das er seinen Männern versprochen hatte.
»Ihr müsst noch von dem Zapfenstreich wissen. Tätigt eure Geschäfte, wärmt euch eine Weile an den Kaminen auf, aber alle Fremden müssen das Dorf bei Einbruch der Nacht verlassen haben.«
Mat warf einen Blick auf den wolkenverhangenen Himmel. »Aber bis dahin sind es keine drei Stunden mehr!«
»Das sind unsere Regeln«, sagte Barlden barsch.
»Das ist lächerlich«, sagte Joline und wandte sich von den Dorffrauen ab. Sie trieb ihr Pferd etwas näher an Mat und Talmanes heran, und wie immer hielten sich ihre Behüter ganz in ihrer Nähe auf. »Meister Barlden, wir können uns nicht auf diese alberne Einschränkung einlassen. Ich verstehe Euer Zögern während dieser gefährlichen Zeiten, aber Ihr werdet doch sicherlich einsehen, dass Eure Regeln für uns nicht zutreffen.«
Der Mann hielt die Arme verschränkt und schwieg.
loline schürzte die Lippen und fasste die Zügel anders, damit ihr Großer Schlangenring besser zu sehen war. »Bedeutet das Symbol der Weißen Burg heutzutage so wenig?«
»Wir respektieren die Weiße Burg.« Barlden sah Mat an. Er war schlau. Den Blick einer Aes Sedai zu erwidern schwächte meistens jede Art von Entschlossenheit. »Aber unsere Regeln sind streng, meine Lady. Es tut mir leid.«
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