Aviendha holte noch einmal tief Luft und warf noch einen Blick auf das zertrampelte Gras vor dem Herrenhaus, wo Rand mit strenger Miene mit den Quartiermeistern sprach, den Arm mit der fehlenden Hand auf dem Rücken haltend, während er mit der anderen Hand lebhaft gestikulierte. Sie lächelte ihn an, auch wenn er nicht in ihre Richtung schaute.
Ich kehre zu dir zurück, dachte sie.
Dann lief sie zum Reisegelände, sammelte das Bündel ein und webte ein Wegetor, das sie ein gutes Stück vor der Kaltfelsenfestung absetzen würde, neben einer Felsformation namens Töchterspeer, von wo aus sie zur Festung laufen konnte, um sich vorzubereiten. Das Tor öffnete sich in die vertraute trockene Luft der Wüste hinein.
Sie duckte sich in das Tor und jubelte endlich über das, was gerade geschehen war.
Sie hatte ihre Ehre zurückgewonnen.
»Ich kam durch ein kleines Wassertor, Aes Sedai«, sagte Shemerin und senkte vor den anderen Anwesenden im Zelt den Kopf. »Ehrlich gesagt war das nicht besonders schwer, nachdem ich die Burg verlassen hatte und in der Stadt war. Ich wagte es nicht, über eine der Brücken zu gehen. Ich durfte die Amyrlin nicht wissen lassen, was ich da tat.«
Romanda sah mit verschränkten Armen zu. Ihr Zelt wurde von zwei großen Messinglampen erhellt, aus deren Spitzen Flammen tanzten. Sechs Frauen lauschten der Geschichte der Ausreißerin. Lelaine war da, obwohl sich Romanda doch so bemüht hatte, dass sie nichts von dieser Zusammenkunft erfuhr. Romanda hatte gehofft, dass die schlanke Blaue zu sehr damit beschäftigt sein würde, sich in ihrem Status zu sonnen, um sich für ein scheinbar so triviales Ereignis zu interessieren.
Neben ihr stand Siuan. Die ehemalige Amyrlin hatte sich mit der Verbissenheit eines Flusskrebses an sie geklammert. Romanda war durchaus über die neu gefundene Fähigkeit erfreut, das Dämpfen wieder Heilen zu können - immerhin war sie eine Gelbe -, aber ein Teil von ihr wünschte sich, Siuan hätte nicht davon profitiert. Als wäre Lelaine nicht allein schon schlimm genug gewesen. Romanda hatte Siuans durchtriebene Natur keinesfalls vergessen, obwohl viele andere im Lager da anscheinend wesentlich nachsichtiger waren. Eine reduzierte Stärke in der Macht bedeutete nicht, dass man plötzlich keine vernünftigen Intrigen mehr schmieden konnte.
Natürlich war Sheriam auch da. Die rothaarige Behüterin der Chroniken saß neben Lelaine. In letzter Zeit war Sheriam sehr still gewesen und hatte kaum die Würde einer Aes Sedai zur Schau gestellt. Dumme Frau. Sie musste aus ihrer Stellung entfernt werden; das konnte jeder sehen. Sollte Egwene jemals zurückkehren - und Romanda betete darum, dass sie es tat, und sei es auch nur, weil es Lelaines Pläne vereiteln würde -, dann würde dazu Gelegenheit sein. Eine neue Behüterin.
Die letzte Person im Zelt war Magla. Romanda und Lelaine hatten - gesittet - darüber diskutiert, wer Shemerin zuerst verhören sollte. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass das nur auf eine faire Weise geschehen konnte, und zwar, wenn sie es gemeinsam taten. Weil Shemerin eine Gelbe war, hatte Romanda die Zusammenkunft in ihrem eigenen Zelt veranstalten können. Es war eine böse Überraschung gewesen, als Lelaine nicht nur mit Siuan, sondern auch noch mit Sheriam im Schlepptau aufgetaucht war. Aber keiner hatte festgelegt, wie viele Begleiter mitgebracht werden konnten. Und so blieb Romanda nur Magla. Die Frau mit den breiten Schultern saß neben ihr und lauschte still dem Geständnis. Sollte sie noch jemanden holen lassen? Aber die Zusammenkunft auf diese Weise zu verzögern wäre zu offensichtlich gewesen.
Doch eigentlich war es auch gar kein Verhör. Shemerin sprach frei heraus, widersetzte sich keinen Fragen. Sie saß vor ihnen auf einem Hocker. Ein Kissen hatte sie abgelehnt. Nur selten hatte Romanda eine Frau gesehen, die so entschlossen war, sich selbst zu bestrafen, wie dieses arme Kind.
Sie ist kein Kind, dachte sie dann. Sie ist eine vollwertige Aes Sedai, ganz egal, was sie auch sagt. Sei verflucht, Elaida, eine von uns in das da zu verwandeln!
Shemerin war eine Gelbe gewesen. Verflixt, sie war noch immer eine Gelbe. Sie sprach nun fast schon eine Stunde, beantwortete Fragen über die Lage in der Weißen Burg. Siuan war die Erste gewesen, die gefragt hatte, wie die Frau überhaupt von dort entkommen war.
»Bitte vergebt mir, dass ich im Lager Arbeit suchte, ohne zu euch zu kommen, Aes Sedai«, sagte Shemerin mit gesenktem Kopf. »Aber meine Flucht verstieß gegen das Gesetz. Als Aufgenommene, die ohne Erlaubnis geht, gelte ich als Ausreißerin. Ich wusste, dass man mich bestraft, sollte man mich entdecken.
Ich bin in der Gegend geblieben, weil sie so vertraut ist, und ich kann sie nicht loslassen. Als euer Heer kam, sah ich die Gelegenheit, eine Arbeit zu finden, und ich ergriff sie. Aber bitte, zwingt mich nicht, zurückzugehen. Ich werde keine Gefahr sein. Ich will das Leben einer normalen Frau führen und darauf achten, meine Fähigkeiten nie zu benutzen.«
»Ihr seid eine Aes Sedai«, sagte Romanda und bemühte sich um einen gemäßigten Tonfall. Das Verhalten dieser Frau verlieh vielem zusätzliche Glaubwürdigkeit, was Egwene über Elaidas machthungrige Herrschaft in der Burg gesagt hatte. »Ganz egal, was Elaida gesagt hat.«
»Ich …« Shemerin schüttelte bloß den Kopf. Beim Licht! Sie war nie die selbstbewussteste aller Aes Sedai gewesen, aber sie so tief gesunken zu sehen war erschreckend.
»Erzählt mir von diesem Wassertor«, sagte Siuan und lehnte sich auf ihrem Stuhl vor. »Wo können wir es finden?«
»An der südwestlichen Seite der Stadt, Aes Sedai«, erwiderte Shemerin. »Fünf Minuten Fußweg östlich von der Stelle, an der die alten Statuen von Eleyan al’Landerin und ihren Behütern stehen.« Sie zögerte, erschien plötzlich noch nervöser. »Aber es ist ein kleines Tor. Da kann man kein Heer hindurchführen. Ich kenne es nur, weil ich die Pflicht hatte, mich um die Bettler zu kümmern, die dort leben.«
»Ich will trotzdem eine Karte«, beharrte Siuan, dann warf sie Lelaine einen Seitenblick zu. »Zumindest bin ich der Ansicht, wir sollten eine haben.«
»Das ist ein weiser Vorschlag«, sagte Lelaine in einem widerwärtig großherzigen Tonfall.
»Ich will mehr über Eure … Situation wissen«, sagte Magla. »Wie kommt Elaida nur auf die Idee, dass es klug sein könnte, eine Schwester zu degradieren? Egwene sprach von diesem Vorfall, und ich fand es schon damals unglaublich. Was hat sie sich nur dabei gedacht?«
»Ich … kann nicht für die Amyrlin sprechen«, sagte Shemerin. Und zuckte zusammen, als die Frauen im Raum sie ziemlich unverhohlen finster anstarrten, weil sie Elaida als Amyrlin bezeichnete. Romanda verzichtete darauf. Da kroch etwas unter dem Segeltuchboden des Zeltes, bewegte sich von der einen Ecke auf die Mitte des Raumes zu. Beim Licht! War das eine Maus? Nein, dazu war es zu klein. Vielleicht eine Grille. Romanda rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum.
»Aber Ihr habt doch sicherlich etwas getan, um ihren Zorn zu verdienen«, fuhr Magla fort. »Etwas, das eine solche Behandlung rechtfertigt?«
»Ich …«, sagte Shemerin. Aus irgendeinem Grund schaute sie immer wieder zu Siuan hinüber.
Dumme Frau. Fast war Romanda geneigt, Elaida zuzugestehen, genau richtig gehandelt zu haben. Man hätte Shemerin niemals zur Stola erheben dürfen. Sie zur Aufgenommenen zu degradieren war natürlich auch keine Art und Weise, die Situation zu lösen. So viel Macht durfte man der Amyrlin nicht zugestehen.
Ja, da war definitiv etwas unter dem Segeltuch, das sich wild entschlossen einen Weg zur Zeltmitte bahnte, eine winzige Erhebung, die sich ruckartig bewegte.
»Ich war in ihrer Gegenwart schwach«, sagte Shemerin schließlich. »Wir sprachen von den … Geschehnissen in der Welt. Ich konnte sie nicht ertragen. Ich zeigte nicht die Selbstsicherheit, die einer Aes Sedai geziemt.«
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