»Du schuldest mir kein Toh«, versicherte Aviendha. »Gut«, sagte Min. »Manchmal befürchte ich, dass wir … dass es zu einer Konfrontation zwischen uns kommen könnte.«
»Und was würde das nützen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Min schulterzuckend. »Ich dachte, das wäre die Art der Aiel. Mich zu einem Ehrenkampf herauszufordern. Um ihn.«
Aviendha schnaubte. »Um einen Mann kämpfen? Wer tut denn so etwas? Würdest du mir Toh schulden, vielleicht könnte ich dann verlangen, dass wir den Tanz der Speere tanzen - aber nur, wenn du eine Tochter wärst. Und nur, wenn ich auch eine wäre. Vermutlich könnten wir mit Messern kämpfen, aber das wäre kaum ein fairer Kampf. Welche Ehre läge darin, gegen jemanden zu kämpfen, der es nicht kann?«
Min errötete, als wäre sie gerade beleidigt worden. Welch seltsame Reaktion. »Ach, ich weiß nicht«, sagte sie, ließ ein Messer aus dem Ärmel gleiten und dann über ihre Knöchel tanzen. »Ich würde mich kaum als schutzlos bezeichnen.« Sie ließ das Messer in ihrem anderen Ärmel verschwinden. Warum mussten Feuchtländer immer so mit ihren Messerkünsten angeben? Thom Merrilin war dafür genauso anfällig gewesen. War Min denn nicht klar, dass Aviendha in der Zeit, die sie brauchte, um wie ein Straßenkünstler mit dem Messer herumzufummeln, ihr dreimal die Kehle hätte durchschneiden können? Aber sie sagte nichts. Offensichtlich war Min auf dieses Geschick sehr stolz, und es bestand kein Grund, sie zu beschämen.
»Das ist unwichtig«, sagte Aviendha und fuhr mit der Arbeit fort. »Ich würde nicht mit dir kämpfen, solange du mich nicht schwer beleidigst. Meine Erstschwester betrachtet dich als Freundin, und ich würde das auch gern tun.«
»Also gut«, sagte Min, verschränkte die Arme und schaute wieder zu Rand hinüber. »Nun, ich schätze, das ist gut so. Ich muss zugeben, dass mir die Vorstellung nicht gefällt, teilen zu sollen.«
Aviendha zögerte, dann tauchte sie den Finger wieder in den Eimer. »Mir auch nicht.« Zumindest gefiel ihr die Vorstellung nicht, mit einer Frau teilen zu müssen, die sie nicht gut kannte.
»Also was tun wir?«
»Weitermachen wie bisher«, meinte Aviendha. »Du hast, was du willst, und ich bin mit anderen Dingen beschäftigt. Wenn sich etwas ändert, sage ich dir Bescheid.«
»Das ist … aufrichtig von dir.« Min sah verwirrt aus. »Du bist mit anderen Dingen beschäftigt? So wie Finger in Wassereimer zu tauchen?«
Wieder errötete Aviendha. »Ja«, fauchte sie. »Genau das. Du entschuldigst mich.« Sie stand auf und ging los, ließ die Eimer stehen. Ihr war klar, dass sie die Beherrschung nicht hätte verlieren dürfen, aber sie konnte es nicht ändern. Min, die immer wieder ihre Strafe zur Sprache brachte. Ihre Unfähigkeit zu begreifen, was die Weisen Frauen eigentlich von ihr wollten. Rand al’Thor, der sich ständig in Gefahr brachte, und sie konnte nicht einmal einen Finger rühren, um ihm zu helfen.
Sie ertrug es einfach nicht länger. Sie überquerte den Rasen und ballte dabei ständig die Fäuste, hielt Abstand zu Rand. So wie dieser Tag verlief, würde er ihre verschrumpelten Finger bemerken und sie fragen, warum sie sie eingeweicht hatte! Wenn er dann entdeckte, dass die Weisen Frauen sie bestraften, tat er vermutlich etwas Übereiltes und machte sich zum Narren. Männer waren so, und Rand al’Thor erst recht.
Aviendha stolzierte über den frühlingshaften Boden. Der braune Untergrund wies rechteckige Abdrücke auf, wo Zelte gestanden hatten. Sie bahnte sich einen Weg vorbei an den Feuchtländern, die in alle Richtungen eilten, und passierte eine Reihe Soldaten, die sich Kornsäcke zuwarfen und damit einen Wagen beluden, an den zwei Zugpferde mit dicken Hufen angeschirrt waren.
Sie blieb in Bewegung und gab sich alle Mühe, nicht zu platzen. Tatsächlich konnte sie das Gefühl nicht loswerden, gleich etwas »Übereiltes« zu tun, sich wie Rand al’Thor zu benehmen. Warum? Warum konnte sie nicht ergründen, was sie falsch machte? Die anderen Aiel im Lager schienen genauso unwissend zu sein wie sie, obwohl sie natürlich keiner darauf angesprochen hatte. Sie erinnerte sich daran, als Tochter ähnliche Bestrafungen gesehen zu haben, und sie hatte sich nie in die Angelegenheiten der Weisen Frauen eingemischt.
Sie ging um den Wagen herum und entdeckte, dass sie wieder auf Rand al’Thor zuhielt. Er sprach mit drei von Davram Basheres Quartiermeistern, die er um Haupteslänge überragte. Einer davon, ein Mann mit langem, schwarzen Schnurrbart, zeigte auf die Pferdeseile und sagte etwas. Rand sah Aviendha und hob die Hand, aber sie drehte sich auf dem Absatz um und ging auf das Aiellager an der Nordseite des Rasens zu.
Vergeblich versuchte sie ihren Zorn zu zügeln. Hatte sie denn kein Recht auf ihre Wut, auch wenn sie sie nur gegen sich selbst richtete? Die Welt stand kurz vor dem Untergang, und sie verbrachte ihre Tage damit, bestraft zu werden! Voraus entdeckte sie eine kleine Gruppe von Weisen Frauen - Amys, Bair und Melaine -, die neben einem Stapel aus zusammengelegten braunen Zelten standen. Die eng zusammengebundenen Bündel waren mit Riemen versehen, damit man sie sich auf den Rücken schnallen konnte.
Eigentlich hätte Aviendha zu ihren Eimern zurückkehren und ihre Bemühungen verdoppeln sollen. Aber das tat sie nicht. Vor Wut schäumend hielt sie auf die Weisen Frauen zu, wie ein Kind, das eine Narshkatze mit einem Stock angreift.
»Aviendha?«, fragte Bair. »Hast du deine Strafe bereits erledigt?«
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Aviendha, blieb vor den Frauen stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. Der Wind zerrte an ihrer Bluse, aber sie ließ sie flattern. Umhereilende Arbeiter - Aiel und Saldaeaner - machten einen großen Bogen um die Gruppe.
»Nun?«, sagte Bair.
»Du lernst nicht schnell genug«, fügte Amys hinzu und schüttelte den weißhaarigen Kopf.
»Ich lerne nicht schnell genug?«, wiederholte Aviendha. »Ich habe alles gelernt, was ihr mir aufgetragen habt! Ich habe jede Lektion gelernt, jede Tatsache wiederholt, jede Pflicht erfüllt! Ich habe alle eure Fragen beantwortet, und ich habe gesehen, dass ihr bei jeder Antwort zustimmend genickt habt!«
Sie starrte jede von ihnen an, bevor sie fortfuhr. »Ich lenke die Macht besser als jede Aielfrau. Ich habe die Speere aufgegeben, und ich heiße den Platz unter euch willkommen. Ich habe meine Pflicht getan und bei jeder Gelegenheit Ehre gesucht. Und doch bestraft ihr mich immer noch! Damit ist jetzt Schluss. Entweder ihr sagt mir jetzt, was ihr von mir wollt, oder ihr schickt mich weg.«
Sie rechnete mit Wut. Sie erwartete Enttäuschung. Sie rechnete damit, erklärt zu bekommen, dass ein unwissender Lehrling die Entscheidungen Weiser Frauen nicht infrage stellte. Zumindest rechnete sie mit einer größeren Strafe für ihre Anmaßung.
Amys sah Melaine und Bair an. »Kind, nicht wir sind es, die dich bestrafen«, sagte sie und schien ihre Worte sehr sorgfältig zu wählen. »Für diese Strafen bist du selbst verantwortlich.«
»Was auch immer ich getan habe, ich glaube einfach nicht, dass ich dafür verdiene, zum Da’tsang gemacht zu werden. Wenn ihr mich so behandelt, dann entehrt ihr euch nur selbst.«
»Kind«, sagte Amys und erwiderte ihren Blick. »Weist du unsere Strafen zurück?«
»Ja«, erwiderte Aviendha mit pochendem Herzen. »Das tue ich allerdings.«
»Du hältst deinen Anspruch für genauso wichtig wie wir den unseren?«, fragte Bair und beschattete das Gesicht mit der Hand. »Du hältst dich für ebenbürtig?«
Ebenbürtig?, dachte Aviendha und verspürte die erste Panik. Ich bin ihnen nicht ebenbürtig! Ich muss noch Jahre lernen. Was mache ich hier?
Konnte sie jetzt noch den Rückzug antreten? Um Verzeihung bitten, ihr Toh irgendwie erfüllen? Am besten eilte sie zurück zu ihrer Strafe und füllte das Wasser um. Ja! Genau das musste sie tun. Sie musste gehen und …
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