Er ging zur Treppe. Diese oberen Etagen waren vom Boden aus nicht zugänglich – der ganze untere Teil des Turms war eine vierzig Fuß hohe Falle. Ein Feind, der das Erdgeschoss betrat und drei Stockwerke Mannschaftsquartiere hinaufstieg, würde entdecken, dass es keinen Weg in den vierten Stock gab. Der einzige Weg zur vierten Ebene war eine schmale, einziehbare Rampe an der Turmaußenseite, die von der zweiten Ebene zur vierten führte. Angreifer waren dort dem Beschuss von oben deckungslos ausgesetzt. Sobald es ein paar von ihnen nach oben geschafft hatten, konnten die Kandori die Rampe einziehen und damit die feindliche Streitkraft teilen; die es bis oben geschafft hatten, würden bei dem Versuch getötet, den Weg zu den Treppen im Inneren zu finden.
Malenarin schritt mit schnellem Schritt in die Höhe. Schlitze an der Treppenhausseite schauten auf die unten liegenden Stufen hinaus und erlaubten es Bogenschützen, auf Eindringlinge zu schießen. Auf halbem Weg nach oben hörte er hastige Schritte entgegenkommen. Eine Sekunde später kam Jargen, der Sergeant der Wache, um die Biegung. Wie die meisten Kandori trug Jargen einen Gabelbart; sein schwarzes Haar war mit grauen Strähnen durchzogen.
Jargen war am Tag seines vierzehnten Namenstags in die Fäulniswache eingetreten. Er trug eine Kordel um die Schulter seiner braunen Uniform; jeder Knoten darin stand für einen von ihm getöteten Trolloc. Mittlerweile mussten es fast fünfzig Knoten sein.
Jargen salutierte, indem er den Arm an die Brust führte, dann senkte er die Hand und legte sie auf das Schwert, ein Zeichen des Respekts für seinen Kommandanten. In vielen Ländern stellte es eine Beleidigung dar, die Waffe auf diese Art zu halten, aber Südländer waren für ihre Reizbarkeit und ihr überschäumendes Temperament bekannt. Konnten sie nicht begreifen, dass es eine Ehre darstellte, das Schwert zu halten und damit anzudeuten, dass man seinen Kommandanten für eine würdige Bedrohung hielt?
»Mein Lord«, sagte Jargen mit rauer Stimme. »Ein Blitz von Turm Rena.«
»Was?«, fragte Malenarin. Die beiden Männer stiegen Seite an Seite nach oben.
»Es war deutlich zu erkennen, Herr«, sagte Jargen. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Nur ein Blitz, aber er war da.«
»Haben sie eine Korrektur geschickt?«
»Vielleicht in der Zwischenzeit. Ich lief los, um Euch zu holen.«
Falls es noch mehr Neuigkeiten gegeben hatte, hätte Jargen sie mitgeteilt, also verschwendete Malenarin seinen Atem nicht dafür, ihn auszufragen. Sie traten auf die Turmspitze, wo ein gewaltiger Mechanismus aus Spiegeln und Lampen stand. Mit dem Apparat konnte der Turm Botschaften nach Osten oder Westen schicken – wo andere Türme an der Grenze zur Großen Fäule standen – und nach Süden entlang einer Reihe von Türmen, die bis zum Aesdaishar-Palast in Chachin reichten.
Vor diesem Turm breitete sich das gewaltige, hügelige Hochland von Kandor aus. An einigen der südlichen Hügel hafteten noch immer die Reste des Morgennebels. Das Land im Süden, das von dieser unnatürlichen Hitze verschont blieb, würde bald ergrünen, und die Hirten würden die höher gelegenen Weidegründe erklimmen, um dort ihre Schafe grasen zu lassen.
Im Norden lag die Große Fäule. Malenarin hatte von den Tagen gelesen, in denen die Fäule von diesem Turm kaum zu sehen gewesen war. Jetzt reichte sie beinahe bis zu seinem Fundament. Turm Rena lag ebenfalls im Nordwesten. Sein Kommandant Lord Niach von Haus Okatomo war ein entfernter Cousin und guter Freund. Grundlos würde er keinen Blitz geschickt haben, und bei einem Versehen hätte er eine Korrektur geschickt.
»Weitere Nachrichten?«, fragte Malenarin.
Die Wachsoldaten schüttelten die Köpfe. Jargen tippte mit dem Fuß auf, und Malenarin verschränkte die Arme, um auf eine Korrektur zu warten.
Nichts geschah. Turm Rena stand mittlerweile innerhalb der Großen Fäule, da er weiter im Norden lag als Turm Heeth. Normalerweise war seine Position innerhalb der Fäule kein Thema. Selbst die furchteinflößendsten Kreaturen der Fäule wussten es besser, als einen Kandori-Turm anzugreifen.
Keine Korrektur kam. Nicht einmal ein Funkeln. »Sendet eine Nachricht an Rena«, befahl Malenarin. »Fragt sie, ob der Blitz ein Versehen war. Dann fragt Turm Farmay, ob ihnen etwas Seltsames aufgefallen ist.«
Jargen schickte die Männer an die Arbeit, warf dabei allerdings Malenarin einen Blick zu, als wollte er fragen: ›Glaubt Ihr, das habe ich nicht bereits getan?‹ Das bedeutete, dass Botschaften geschickt worden waren, es aber keine Antwort gegeben hatte. Wind blies über die Turmspitze und ließ das Eisen des Spiegelapparats quietschen, während seine Männer eine Reihe Blitze schickte. Dieser Wind war warm. Viel zu heiß. Malenarin schaute nach oben, wo der schwarze Sturm noch immer unverändert brodelte. Er schien sich etwas beruhigt zu haben.
Das bereitete ihm großes Unbehagen.
»Schickt eine Botschaft zu den Türmen im Hinterland«, sagte Malenarin. »Berichtet ihnen, was wir gesehen haben; sie sollen sich bereithalten, falls es Ärger gibt.«
Die Männer machten sich an die Arbeit.
»Sergeant«, sagte Malenarin, »wer ist der Nächste auf der Botenliste?«
Zur Turmbesatzung gehörte eine kleine Gruppe von Jungen, die ausgezeichnete Reiter waren. Als Leichtgewichte konnten sie auf schnellen Pferden reiten, sollte ein Kommandant sich entscheiden, auf die Spiegel zu verzichten. Spiegellicht war schnell, aber es konnte auch vom Feind gesehen werden. Und sollte die Turmreihe unterbrochen oder der Apparat beschädigt sein, mussten sie die Hauptstadt benachrichtigen.
»Der Nächste auf dem Dienstplan…«, sagte Jargen und warf einen Blick auf die Liste, die neben der Tür zum Dach angenagelt war. »Das wäre Keemlin, mein Lord.« Keemlin. Sein Keemlin.
Malenarin starrte finster nach Nordwesten zu dem stummen Turm, der so unheilvoll geblitzt hatte. »Lasst mich wissen, wenn es auch nur den Hauch einer Bestätigung von den anderen Türmen gibt«, befahl Malenarin den Soldaten. »Jargen, Ihr kommt mit mir.«
Die beiden eilten die Stufen hinunter. »Wir müssen einen Boten nach Süden schicken«, sagte Malenarin und zögerte dann. »Nein. Nein, wir müssen mehrere Boten schicken. Verdoppelt sie. Nur für den Fall, dass die Türme stürzen.« Er setzte sich wieder in Bewegung.
Die beiden Männer verließen das Treppenhaus und betraten Malenarins Arbeitsgemach. Er schnappte sich die beste Schreibfeder von dem Gestell an der Wand. Der verdammte Schlagladen klapperte schon wieder; die Papiere auf seinem Schreibtisch knisterten, als er ein unbeschriebenes Blatt hervorzog.
Rena und Farmay reagieren nicht auf Blitzbotschaften. Möglicherweise überrannt oder ernsthaft gehindert. Habt Acht. Heeth hält stand.
Er faltete das Blatt und überreichte es Jargen. Der Mann nahm es mit seiner schwieligen Hand, las es und grunzte. »Also zwei Kopien?«
»Drei«, erwiderte Malenarin. »Mobilisiert die Bogenschützen und schickt sie aufs Dach. Sagt ihnen, die Gefahr könnte von oben kommen.«
Falls er sich nicht nur vor Schatten erschreckte – falls die Türme zu beiden Seiten von Heeth tatsächlich so schnell ausgeschaltet worden waren -, dann konnte das auch jenen im Süden zugestoßen sein. Und hätte er einen solchen Angriff geführt, hätte er alles in seiner Macht Stehende getan, um sich an ihnen vorbeizuschleichen und den südlichsten Turm als Ersten zu überfallen. Das war die beste Methode, um sicherzustellen, dass es keine Botschaften mehr in die Hauptstadt gab.
Jargen salutierte mit der Faust an der Brust und ging. Die Botschaft würde sofort losgeschickt; dreimal auf dem Rücken von Pferden, einmal auf flinken Füßen. Malenarin erlaubte sich, einen Hauch von Erleichterung zu spüren, weil sein Sohn zu jenen gehörte, die in die Sicherheit ritten. Darin lag keine Ehrlosigkeit; die Botschaften mussten überbracht werden, und Keemlin war der Nächste auf dem Dienstplan.
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