Raistlin hustete. »Bist du gekommen, um dich über meinen Bruder zu unterhalten?« unterbrach er Tolpan kalt. »Wenn das der Fall ist, kannst du gehen...«
»O nein!« widersprach Tolpan hastig. Dann grinste er den Magier an. »Ich bin gekommen, um die Umwälzung zu verhindern!«
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der Kender die Befriedigung, daß seine Worte dem Magier die Sprache verschlugen. Es war jedoch keine Befriedigung, die er lange genoß. Das Gesicht des Magiers lief weiß an und erstarrte, seine spiegelgleichen Augen schienen zu zerspringen. Hände, so stark wie die Klauen eines Raubvogels, gruben sich in die Schultern des Kenders. Innerhalb von Sekunden fand er sich in Raistlins Zimmer wieder. Die Tür schlug mit einem Knall zu.
»Von wem hast du diese Idee aufgeschnappt?« herrschte Raistlin ihn an.
Tolpan wich erschreckt zurück und sah sich nach einem Versteck um. »Von d...dir«, stammelte er. »Du hast etwas über mein Zurückkommen gesagt und daß ich in der Lage wäre, die Zeit zu verändern. Und ich dachte, die Umwälzung zu verhindern würde eine gute Sache sein...«
»Und wie willst du das anstellen?« fragte Raistlin. In seinen Augen brannte ein heißes Feuer.
»Nun, ich plante, die Sache erst mit dir zu besprechen«, sagte der Kender in der Hoffnung, daß Raistlin für Schmeicheleien noch empfänglich war, »und dann dachte ich – wenn du deinen Segen gibst —, daß ich einfach zum Königspriester gehe und mit ihm spreche und ihm sage, daß er wirklich einen großen Fehler macht – einen der ewigwährenden großen Fehler, wenn du verstehst, was ich meine. Und ich bin mir sicher, wenn ich es ihm erst einmal erklärt habe, wird er zuhören...«
»Da bin ich mir sicher«, sagte Raistlin, seine Stimme klang kühl. Aber Tolpan glaubte, einen Ton großer Erleichterung in ihr ausgemacht zu haben. »Also«, der Magier drehte sich um, »du hast vor, mit dem Königspriester zu reden. Und was ist, wenn er sich weigert zuzuhören? Was ist dann?«
»Vermutlich habe ich das nicht berücksichtigt«, antwortete der Kender. Er seufzte und zuckte die Schultern. »Dann gehen wir eben nach Hause.«
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Raistlin sanft, setzte sich auf einen Stuhl und musterte den Kender mit seinen spiegelgleichen Augen. »Eine sichere Möglichkeit! Eine Möglichkeit, wie du die Umwälzung verhindern kannst, ohne zu versagen.«
»Und die wäre?« fragte Tolpan begierig.
»Das magische Gerät«, antwortete Raistlin und streckte seine schlanken Hände aus. »Seine Kräfte sind groß, weit größer, als Par-Salian dem Idioten von meinem Bruder mitgeteilt hat. Aktiviere es am Tag der Umwälzung, und seine Magie wird das feurige Gebirge hoch oben im Himmel zerstören, so daß niemand Schaden davonträgt.«
»Wirklich?« keuchte Tolpan. »Das ist ja wundervoll!« Dann runzelte er die Stirn. »Aber wie kann ich sicher sein? Nehmen wir an, es funktioniert nicht...«
»Was hast du zu verlieren«, fragte Raistlin, »wenn es aus irgendeinem Grund versagt? Aber letzteres bezweifle ich wirklich.« Er lächelte über die Naivität des Kenders. »Es wurde immerhin von den mächtigsten Magiern geschaffen...«
»Wie die Kugeln der Drachen?« unterbrach ihn Tolpan.
»Wie die Kugeln der Drachen«, sagte Raistlin, über die Unterbrechung verärgert. »Aber wenn es versagt, könntest du es immer noch benutzen, um im letzten Augenblick zu entkommen.«
»Mit Caramon und Crysania«, fügte Tolpan hinzu.
Raistlin antwortete nicht, aber der Kender bemerkte es in seiner Aufregung nicht. Dann fiel ihm etwas ein. »Was ist, wenn Caramon vorher aufbrechen will?« fragte er besorgt.
»Wird er nicht«, antwortete Raistlin sanft. »Vertrau mir«, fügte er hinzu, als er sah, daß Tolpan Einwände erheben wollte.
Der Kender grübelte wieder nach, dann seufzte er. »Mir fiel noch etwas ein. Ich glaube nicht, daß Caramon mir das Gerät geben wird. Er läßt es niemals aus den Augen und verschließt es in einer Kommode, wenn er das Zimmer verlassen muß. Und ich bin mir sicher, daß er mir nicht glauben würde, wenn ich ihm zu erklären versuchte, warum ich es haben will.«
»Sag es ihm nicht. Der Tag der Umwälzung ist der Tag des Endkampfes«, sagte Raistlin schulterzuckend. »Wenn es kurze Zeit nicht da ist, wird es ihm gar nicht auffallen.«
»Aber das wäre Diebstahl!« widersprach Tolpan.
Raistlins Lippen kräuselten sich. »Laß uns sagen: ausleihen. Caramon würde nicht böse sein. Ich kenne meinen Bruder. Denk doch mal, wie stolz er auf dich sein wird!«
»Du hast recht«, sagte Tolpan mit glänzenden Augen. »Ich werde ein wahrer Held sein, größer als Kronin Distelknot! Wie finde ich heraus, wie es funktioniert?«
»Ich gebe dir die Anweisungen«, sagte Raistlin und erhob sich. Er begann wieder zu husten. »Komm wieder... in drei Tagen. Und jetzt... muß ich mich ausruhen.«
»Sicher«, sagte Tolpan freudig und stand auf. »Ich hoffe, es geht dir bald besser.« Er ging zur Tür. Doch dort zögerte er noch einmal. »Ich habe kein Geschenk für dich. Es tut mir leid...«
»Du hast mir ein Geschenk gegeben«, sagte Raistlin, »ein Geschenk von unermeßlichem Wert. Vielen Dank.«
»Habe ich das?« fragte Tolpan erstaunt. »Oh, du meinst, daß ich die Umwälzung verhindern will? Nun ja, nicht der Rede wert. Ich...«
Tolpan fand sich plötzlich mitten im Garten wieder, starrte auf die Rosenbüsche und einen äußerst überraschten Kleriker, der den Kender sich aus dem Nichts materialisieren sah, mitten auf dem Weg.
»Beim Bart des großen Reorx, wenn ich nur wüßte, wie das funktioniert«, sagte Tolpan nachdenklich.
Am Tag des Heiligen Abends ereignete sich der erste der Unglücksfälle, die später als die Dreizehn Katastrophen bezeichnet wurden. (Man beachte, daß Astinus sie in den »Chroniken« die Dreizehn Warnungen nennt.)
Der Tag brach heiß und windstill an. Es war der heißeste Heilige Abend, an den sich alle – selbst die Elfen – erinnern konnten. Im Tempel ließen die Heiligabendrosen die Köpfe hängen und verwelkten, der Schnee, der den Wein in den silbernen Gefäßen kühlen sollte, schmolz so schnell, daß die Diener den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatten, als von den Steinkellern zu den Gesellschaftsräumen zu eilen und eimerweise Schnee zu schleppen.
Raistlin erwachte an diesem Tag in der dunklen Stunde vor der Morgendämmerung so krank, daß er nicht aufstehen konnte. Er lag im Schweiß gebadet nackt da, ein Opfer der fieberhaften Halluzinationen, die ihn veranlaßt hatten, seine Roben von sich zu reißen. Die Götter waren wirklich in der Nähe, aber es war die Nähe eines bestimmten Gottes – seiner Göttin, der Königin der Finsternis —, die ihn in Mitleidenschaft zog. Er konnte ihren Zorn spüren, so wie er den Zorn aller Götter über den Versuch des Königspriesters spüren konnte, das Gleichgewicht zu zerstören, das sie in der Welt aufrechtzuerhalten versuchten.
Folglich träumte er von seiner Königin, aber sie hatte in ihrem Zorn entschieden, nicht zu erscheinen. Er hatte nicht von einem entsetzlichen fünfköpfigen Drachen geträumt, dem Vielfarbenen Drachen, der versuchen würde, die Welt im Krieg der Lanze zu versklaven. Er hatte sie nicht als die Finstere Kriegerin gesehen, die ihre Legionen in den Tod und die Zerstörung führte. Nein, sie war ihm als die Schwarze Verführerin der Nacht erschienen, die schönste aller Frauen, und so hatte sie die Nacht bei ihm verbracht und ihn mit der Verzückung des Fleisches gequält.
Er schloß die Augen, zitterte in dem Raum, der trotz der Hitze draußen kalt war. Er stellte sich wieder das duftende dunkle Haar vor, das über ihn strich; er spürte ihre Wärme. Er streckte die Hände aus, ließ sich in ihren Zauber fallen, teilte das Haar – und sah in Crysanias Gesicht!
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