Die Leute aus dem Süden werden es sich gründlich überlegen, bevor sie uns ein zweites Mal angreifen, sagte sich Auraya. Sie dachte an die leuchtende Gestalt, die sie gesehen hatte, nachdem die Pentadrianer die Minen verlassen hatten. Ob es eine Illusion oder ein neuer Gott gewesen war, er hatte ihren Feinden jedenfalls nicht zum Sieg verholten.
Auch das wird sie zögern lassen, falls sie erwägen sollten, einen weiteren Eroberungsversuch zu unternehmen.
Während unsere Götter Nordithania durch uns erfolgreich geschützt haben. Sie lächelte, doch ihr Lächeln verblasste sogleich wieder. Seit dem Tod des pentadrianischen Anführers hatte sie das Geschehene im Geist wieder und wieder durchgespielt. Nicht um sich daran zu erfreuen, dass sie den tödlichen Schlag geführt hatte, sondern um zu begreifen, was passiert war.
Sie erinnerte sich sehr deutlich an ein neues Bewusstsein von Magie, das sie erfüllt hatte. Sie hatte es spüren können. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie sich in diesen Bewusstseinszustand zurückversetzen. Irgendwie hatte sie die Fähigkeit gewonnen, mehr Magie zu benutzen, als sie es je zuvor vermocht hatte.
Die anderen Weißen waren von der Stärke ihres Angriffs überrascht gewesen. Von Zeit zu Zeit ertappte sie Juran dabei, wie er sie verwundert musterte. Vielleicht hatte sie schneller als erwartet gelernt, ihre Gaben zu nutzen. Aber die anderen Weißen waren auch nicht gezwungen gewesen, ihre Fähigkeit in einem Krieg unter Beweis zu stellen. Vielleicht überraschte es Juran auch nur, dass sie es gewesen war, die den entscheidenden Schlag geführt hatte, und nicht er. Falls es so war, hegte er deswegen keinen Groll gegen sie, sondern schien vielmehr erfreut zu sein. Sie betrachtete seine Anerkennung mit einem Anflug von Argwohn und fragte sich, ob ihre Leistung ihn dazu veranlassen würde, ihr ihre Affäre mit Leiard zu verzeihen.
Bei dem Gedanken an Leiard durchzuckte sie ein scharfer Schmerz, und sie war froh, dass sie nicht mehr mit den anderen Weißen verbunden war. Dann straffte sie sich. Leiard war ein Fehler, der der Vergangenheit angehörte, eine Lektion, was die Gefahren der Liebe betraf. Jetzt, nach der Schlacht, erschien ihr ihre Vernarrtheit in den Traumweber kindlich und töricht. Es war an der Zeit, an wichtigere Dinge zu denken:
Ihr Volk – und das der Siyee – musste sich von den Strapazen erholen.
Ein einsamer Reiter galoppierte zu den Weißen hinüber.
Auraya, die ihn beobachtete, war dankbar für die Ablenkung. Die Ratgeber hatten berichtet, dass König Guire und Vermittler Meeran einige Stunden nachdem sie vor den Worns geflohen waren, zurückgekehrt waren. König Berro dagegen war seither nicht mehr gesehen worden.
Der Reiter brachte sein Tier vor Juran zum Stehen. »Wir haben noch keine Spur von ihm finden können, Juran von den Weißen. Wir könnten eine zweite Gruppe Fährtensucher ausschicken.«
»Ja«, antwortete Juran. »Tut das.«
Der Mann eilte davon. Die Weißen gingen weiter hügelabwärts auf das Lager zu. Als sie es fast erreicht hatten, rief eine vertraute, hohe Stimme Aurayas Namen. Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus, als Unfug vom Dach eines Tarns sprang und über den schlammigen Boden auf sie zugehüpft kam. Zwei weitere Veez folgten ihm, ein schwarzer und ein orangefarbener. Als Unfug an Aurayas Robe auf ihre Schulter hinaufkletterte, rannten die anderen Veez zu Mairae und Dyara hinüber.
»Du kleiner Ausbrecher«, schalt Dyara, während sie über den leuchtend orangefarbenen Kopf ihres Schoßtieres strich. Dann sah sie Unfug argwöhnisch an.
»Hat er etwa einen schlechten Einfluss auf Glück?«
Auraya lächelte. »Vermutlich. Hat er...?«
Plötzlich hörten sie Flügelschlagen, und Aurayas Herz setzte einen Schlag aus. Sie blickte hastig zum Himmel auf und sah zu ihrer Erleichterung Sprecherin Sirri und zwei andere Siyee zu ihnen hinabsteigen. Als sie landeten, ging Juran auf sie zu.
»Sprecherin Sirri. Wir stehen tief in Eurer Schuld. Ihr wart uns heute ein unschätzbarer Verbündeter.«
Sirri lächelte grimmig. »Es war unsere erste Erfahrung mit einem Krieg. Wir haben heute viel gelernt und einen hohen Preis dafür gezahlt, obwohl unsere Verluste nichts sind im Vergleich zu euren. Als die Worns unsere nicht kämpfenden Leute angegriffen haben, konnten sie entkommen.«
»Alle Verluste sind gleichermaßen furchtbar«, erwiderte Juran. »Unsere Heilerpriester werden sich um die Verwundeten der Siyee ebenso kümmern wie um die der Landgeher.«
Sirri wirkte verwundert, und Auraya sah in den Gedanken der Frau Bilder von den vielen hundert Traumwebern, die auf das Schlachtfeld gekommen waren.
»Dann werde ich euren Priestern diejenigen von meinen Leuten schicken, die nicht an den Kämpfen beteiligt waren. Sie sind ausgeruht und können kleine Lasten sehr schnell von einem Ort zum anderen bringen.«
Juran nickte. »Ihre Hilfe wäre uns sehr willkommen. Gibt es sonst noch irgendetwas, das du brauchst?«
»Nein. Aber ich habe gerade etwas erfahren, das dich vielleicht interessieren wird. Einer meiner Leute hat in nordwestlicher Richtung einen Mann in einem Baum sitzen sehen. Meine Jägerin hat mir berichtet, seine Rufe hätten ihre Aufmerksamkeit erregt, aber sie hat es nicht gewagt zu landen, da sie eins dieser großen Raubtiere des Feindes in der Nähe hören konnte.«
Juran zog die Augenbrauen hoch. »Das ist in der Tat interessant. Könntest du diese Jägerin zu uns schicken, damit wir den Mann, den sie gesehen hat, suchen können?«
»Natürlich.«
»Vielen Dank, Sprecherin Sirri.«
Sie nickte, dann wandte sie sich zum Gehen. »Ich werde meine Leute zusammenrufen und euch so viele Helfer schicken, wie ich kann.«
Als sie mit ihren Gefährten davongeflogen war, drehte Juran sich zu Auraya um. »Ich denke, es wäre das Beste, wenn du diese Jägerin begleiten würdest.«
Aber...zeige deine Fähigkeiten nicht allzu deutlich, fügte er hinzu. Es gibt eine feine Grenze zwischen Dankbarkeit und Groll.
Ich nehme an,dass die Grenze in König Berros Fall ganz besonders fein ist. Ich werde vorsichtig sein.
»Dieser arme Mann wird ein Reittier brauchen, um zum Lager zurückzukommen«, sagte sie laut.
Juran lächelte. »Ja, und vertraute Gesichter, die den Schock, den er erlitten hat, ein wenig mildern.«
Sie hätte um ein Haar laut aufgelacht. Wenn einige Landgeher zugegen waren, die die Rettung beobachteten, würden alle erfahren, dass der König von Toren sein Leben den Siyee verdankte.
Und das konnte gewiss nicht schaden.
Überall waren Gebiete, die jedweder Magie beraubt waren, aber das war normal für ein Schlachtfeld. Zum Ausgleich brauchte Leiard sich lediglich auf das Gefühl von Magie um ihn herum zu konzentrieren und seine Kraft aus den noch unverbrauchten Bereichen zu ziehen.
Er ließ die Magie durch sich selbst in den Verletzten fließen und bewegte Knochen und Fleisch, bis sie sich wieder zusammenfügten. Die Flüssigkeiten kehrten in die ihnen gemäßen Bahnen zurück. Leiard hörte den Mann vor Schmerz stöhnen und blockierte das Nervengewebe abermals, diesmal so, dass sich der Vorgang leicht umkehren ließ. Während er das Bein versorgte, behob Leiard auch die übrigen Schäden. Er strich mit der Hand über die Haut des Mannes und verspürte eine tiefe Befriedigung angesichts des narbenfreien Gewebes, dann löste er die Blockade der Nervenbahnen wieder und machte sich auf die Suche nach einem anderen Patienten.
Er brauchte lediglich seinen Geist zu öffnen und sich von den Gedanken der Verletzten und Sterbenden leiten zu lassen. Verworrene, trübe Regungen führten ihn zu einer pentadrianischen Zauberin. Die Frau hatte einen Schlag auf den Kopf bekommen, der einen blutigen Krater hinterlassen hatte.
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