»Ich habe ungefähr zehn Jahre dort gelebt«, antwortete sie. »Bei meinem Onkel und meiner Tante. Danach hatten wir ein Zimmer im Nordviertel.«
»Was ist mit deinen Eltern?«
»Meine Mutter starb, als ich noch ein Kind war. Mein Vater…« Sie zuckte die Achseln. »Er ist fortgegangen.«
»Und hat dich ganz allein in den Hüttenvierteln zurückgelassen? Wie schrecklich!«, rief Bina.
»Meine Tante und mein Onkel haben sich um mich gekümmert.« Sonea brachte ein Lächeln zustande. »Und ich hatte viele Freunde.«
»Triffst du dich noch mit deinen Freunden?«, wollte Issle wissen.
Sonea schüttelte den Kopf. »Nicht oft.«
»Was ist mit diesem Dieb, mit dem du befreundet bist, dem Jungen, den Lord Fergun im Kerker unterhalb der Universität eingesperrt hatte? Hat er dich nicht einige Male hier in der Gilde besucht?«
Sonea nickte. »Ja.«
»Er gehört zu den Dieben, nicht wahr?«, fragte Issle.
Sonea zögerte. Sie konnte es abstreiten, aber würden sie ihr glauben?
»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. In sechs Monaten kann sich vieles verändern.«
»Warst du auch eine Diebin?«
»Ich?« Sonea lachte leise. »Nicht jeder, der in den Hüttenvierteln lebt, arbeitet für die Diebe.«
Die anderen schienen sich ein wenig zu entspannen. Einige nickten sogar. Issle blickte in die Runde, dann runzelte sie finster die Stirn.
»Aber du hast gestohlen, nicht wahr?«, sagte sie. »Du warst eine von diesen Taschendiebinnen auf dem Markt.«
Sonea spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, und sie wusste, dass sie sich mit dieser Reaktion selbst verraten hatte. Wenn sie Issles Vorwurf abstritt, würden die anderen glauben, dass sie log. Vielleicht würde die Wahrheit ihr Mitgefühl erregen…
»Ja, als Kind habe ich Essen und Geld gestohlen«, erklärte sie und zwang sich, den Kopf hoch zu halten und Issle trotzig anzusehen. »Aber nur, wenn ich großen Hunger hatte oder wenn der Winter nahte und ich Schuhe und warme Kleidung brauchte.
Issles Augen leuchteten triumphierend. »Dann bist du also doch eine Diebin.«
»Aber sie war damals noch ein Kind, Issle«, protestierte Ahrind schwach. »Du würdest ebenfalls stehlen, wenn du nichts zu essen hättest.«
Die anderen wandten sich zu Issle um, aber diese warf lediglich abschätzig den Kopf in den Nacken, dann beugte sie sich zu Sonea vor und bedachte sie mit einem kalten Blick.
»Sag mir die Wahrheit«, verlangte sie. »Hast du jemals jemanden getötet?«
Sonea erwiderte Issles Blick, während Wut in ihr aufstieg. Wenn Issle die Wahrheit erführe, würde das Mädchen vielleicht zögern, bevor sie sie das nächste Mal zu quälen versuchte.
»Ich weiß es nicht.«
Die anderen Novizen starrten Sonea fassungslos an.
»Was soll das heißen?«, fragte Issle höhnisch. »Entweder du hast es getan, oder du hast es nicht getan.«
Sonea sah das Mädchen mit schmalen Augen an. »Also schön, wenn du es unbedingt wissen willst. Eines Nachts vor ungefähr zwei Jahren hat mich ein Mann gepackt und in eine Gasse gezerrt. Er wollte… nun, du kannst davon überzeugt sein, dass er mich nicht nach dem Weg fragen wollte. Als ich eine Hand frei bekam, habe ich ihm mein Messer in den Leib gerammt und bin davongelaufen. Ich bin nicht bei ihm stehen geblieben, deshalb weiß ich nicht, ob er es überlebt hat oder nicht.«
Daraufhin herrschte minutenlang Schweigen an ihrem Tisch. »Du hättest schreien können«, meinte Issle schließlich.
»Glaubst du wirklich, jemand würde sein Leben aufs Spiel setzen, um irgendein armes Mädchen zu retten?«, fragte Sonea kalt. »Der Mann hätte mir die Kehle durchschneiden können, um mich zum Schweigen zu bringen, oder ich hätte mit meinem Schreien nur noch mehr Gesindel angelockt.«
Bina schauderte. »Wie schrecklich.«
Das Mitgefühl des anderen Mädchens entzündete einen schwachen Hoffnungsfunken in Sonea, der bei der nächsten Frage jedoch sogleich wieder erlosch.
»Du trägst ein Messer ?«
Als Sonea den lonmarischen Akzent hörte, drehte sie sich um und blickte in die grünen Augen Elayks. »Jeder tut das. Um Päckchen zu öffnen, Früchte zu schälen…«
»Die Schnüre der Geldbörsen durchzuschneiden«, warf Issle ein.
Sonea sah das Mädchen fest an. Issle erwiderte ihren Blick mit unverhohlener Kälte. Offensichtlich war es reine Zeitverschwendung, der da zu helfen, dachte Sonea.
»Sonea«, erklang plötzlich eine Stimme. »Sieh mal, was ich für dich aufgehoben habe.«
Die Novizen drehten sich um; eine vertraute Gestalt kam mit einem Teller an ihren Tisch geschlendert. Regin grinste, dann stellte er den Teller wortlos vor Sonea hin. Als sie sah, dass Brotkrusten und Essensreste auf dem Teller lagen, schoss ihr die Röte in die Wangen.
»Was bist du für ein großzügiger, wohlerzogener Junge, Regin.« Sie schob den Teller von sich. »Vielen Dank, ich habe bereits gegessen.«
»Aber du hast doch sicher noch Hunger«, sagte er mit geheucheltem Mitgefühl. »Sieh dich doch nur an. Du bist so klein und mager. Du siehst wirklich so aus, als könntest du ein paar anständige Mahlzeiten vertragen. Haben deine Eltern dir nicht genug zu essen gegeben?« Er schob den Teller wieder vor sie hin.
Sonea schob ihn zurück. »Nein, wenn du es genau wissen willst, das haben sie nicht getan.«
»Sie sind tot«, meldete sich einer der anderen Novizen zu Wort.
»Nun, warum nimmst du das Essen nicht mit, falls du später noch einmal Hunger bekommst?« Mit einem schnellen Stoß schob er den Teller über den Rand des Tisches auf Soneas Schoß. Mehrere Novizen kicherten verhalten, als die durchweichten Essensreste sich auf Soneas Robe und auf den Fußboden ergossen und beides mit einer dicken, braunen Soße überzogen. Sonea fluchte, ohne auch nur einen Moment lang an Rothens eindringliche Ermahnungen zu denken, und Issle schnalzte angewidert mit der Zunge.
Gerade als Sonea aufblickte und den Mund zu einer Erwiderung öffnete, ertönte der Gong der Universität.
»Oje!«, rief Regin aus. »Es wird Zeit für den Unterricht. Tut mir Leid, dass wir dich nicht beim Essen beobachten können, Sonea.« Er wandte sich den anderen zu. »Kommt mit! Wir wollen uns doch nicht verspäten, oder?«
Regin ging breitbeinig davon, und die anderen folgten ihm. Schon bald war Sonea die einzige Novizin im Speisesaal. Seufzend stand sie auf, hob ihre Robe und schüttelte das Essen vorsichtig zurück auf den Tisch. Als sie die klebrige braune Soße auf ihrem Gewand betrachtete, fluchte sie abermals leise.
Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte unmöglich in diesem Zustand zum Unterricht erscheinen. Der Lehrer würde sie nur zum Umziehen in ihr Zimmer schicken, was Regin einmal mehr Gelegenheit gäbe, sie zu verspotten. Nein, sie würde als Erstes in Rothens Wohnung laufen und sich eine weniger demütigende Erklärung für ihre Verspätung ausdenken.
In der Hoffnung, dass ihr unterwegs nicht allzu viele Menschen begegnen würden, eilte sie zu den Magierquartieren hinüber.
Als Dannyl hörte, dass die Matrosen sich in der Messe am Ende des Gangs versammelten, unterdrückte er ein Stöhnen. Eine weitere lange Nacht stand ihm bevor. Einmal mehr kam Jano ihn holen, und die Seeleute brachen in Jubel aus, als er sich zu ihnen gesellte. Eine Flasche erschien wie aus dem Nichts und wurde herumgereicht, bis jeder einen Schluck von dem stark riechenden Vindo-Schnaps, dem Siyo, getrunken hatte. Als die Reihe an Dannyl kam, gab er die Flasche direkt an Jano weiter, was ihm gespielte Enttäuschung von Seiten der Matrosen eintrug.
Nachdem alle von dem Siyo getrunken hatten, begannen die Seeleute, sich gutmütig in ihrer abgehackt klingenden Muttersprache zu streiten. Nachdem sie schließlich Einigung erzielt hatten, fingen sie an zu singen und drängten Dannyl, in ihren Gesang mit einzustimmen. An den vergangenen Abenden hatte er nachgegeben, aber diesmal bedachte er Jano mit einem strengen Blick.
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