Abermals erklang der Gong, und Stille senkte sich über den Raum.
»Und wie du dir sicher vorstellen kannst, war Administrator Lorlen sehr enttäuscht darüber, dass Lord Fergun seine Version der Ereignisse nicht wird vortragen können«, fügte Rothen leise hinzu.
Dannyl hatte Mühe, nicht laut aufzulachen. Inzwischen hatten die Höheren Magier, wie Rothen feststellte, alle ihre Plätze eingenommen. Nur Administrator Lorlen stand noch, einen Gong in der einen Hand, einen Klöppel in der anderen.
Lorlens Miene war ungewöhnlich ernst. Rothens Heiterkeit verflog im Nu, als ihm bewusst wurde, dass dies die erste Krise war, die der andere Magier seit seiner Wahl meistern musste. Lorlen hatte unter Beweis gestellt, dass er mit den alltäglichen Belangen der Gilde durchaus fertig zu werden wusste, aber gewiss stellten sich in diesem Augenblick nicht wenige Magier die Frage, wie der Administrator an ein Problem wie dieses herangehen würde.
»Ich habe diese Versammlung einberufen, damit wir über den Zwischenfall diskutieren können, der sich heute Morgen am Nordplatz ereignet hat«, begann Lorlen. »Dabei müssen wir uns mit zwei äußerst ernsten Themen befassen: dem Tod eines Unschuldigen und der Existenz eines Magiers, der sich unserer Kontrolle entzieht. Zunächst wollen wir uns dem ersten und ernsteren dieser beiden Dinge zuwenden. Ich rufe Lord Rothen als Zeugen des Vorfalls auf.«
Dannyl sah Rothen überrascht an, dann lächelte er. »Natürlich. Es muss Jahre her sein, seit du das letzte Mal da unten gestanden hast. Viel Glück.«
Rothen erhob sich, nicht ohne seinem Freund zuvor einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. »Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst. Ich werde schon zurechtkommen.«
Die versammelten Magier drehten die Köpfe, um Rothen zu beobachten, wie er die Halle durchquerte, um vor die Höheren Magier zu treten. Er verneigte sich kurz vor dem Administrator, der ihm seinerseits zunickte.
»Erzählt uns, was Ihr beobachtet habt, Lord Rothen.« Rothen hielt einen Moment lang inne, um seine Worte abzuwägen. Wenn ein Magier vor der Gilde zum Sprechen aufgefordert wurde, erwartete man von ihm, dass er sich präzise und ohne Umschweife ausdrückte.
»Als ich heute Morgen auf dem Nordplatz ankam, war Lord Fergun bereits dort«, begann er. »Ich habe meine Position neben ihm eingenommen und meine Energie dem Schild hinzugefügt. Einige der jüngeren Vagabunden bewarfen uns mit Steinen, aber wie immer haben wir sie ignoriert.« Die Höheren Magier beobachteten ihn genau. Rothen kämpfte seine aufsteigende Nervosität nieder. Es war tatsächlich lange her, dass er das letzte Mal vor der Gilde gesprochen hatte.
»Als Nächstes habe ich aus den Augenwinkeln ein blaues Licht aufblitzen sehen und eine Störung des Schildes wahrgenommen. Ein kleiner Gegenstand kam auf mich zugeflogen, aber bevor ich reagieren konnte, traf er Lord Fergun an der Schläfe, und dieser verlor das Bewusstsein. Ich habe ihn aufgefangen, ihn vorsichtig auf den Boden gelegt und mich davon überzeugt, dass seine Verletzung nicht ernst war. Als dann einige andere herbeikamen, um Lord Fergun beizustehen, habe ich nach dem Werfer Ausschau gehalten.«
Rothen lächelte schief. »Während die meisten der Jugendlichen verwirrt und überrascht zu sein schienen, starrte eine junge Frau voller Staunen auf ihre Hände hinab. Ich habe sie dann kurz aus den Augen verloren, als meine Kollegen herbeikamen. Da sie den Werfer nicht ausmachen konnten, baten sie mich, ihn ihnen zu zeigen.«
Er schüttelte den Kopf. »Als ich ihrem Wunsch entsprach und in die Richtung des Mädchens deutete, glaubten sie irrigerweise, ich hätte auf einen Jungen gezeigt, der neben ihr stand, und… und übten Vergeltung.«
Lorlen bedeutete Rothen, zu schweigen. Er sah auf die Magier in den Sitzreihen unter ihm hinab, und sein Blick fiel auf Lord Balkan, den Dekan der Krieger.
»Lord Balkan, Ihr habt mit denjenigen gesprochen, die den Jungen getötet haben. Was hat Eure Befragung erbracht?«
Der rotgewandete Magier erhob sich. »Es waren insgesamt neunzehn Magier beteiligt, und sie alle gingen davon aus, dass einer der Jungen in der Menge der Angreifer gewesen sei, da sie es für unwahrscheinlich hielten, dass jemand ein Mädchen widerrechtlich zu einem wilden Magier ausbilden würde. Jeder dieser Magier hatte die Absicht, den Jungen zu betäuben, nicht ihn zu verletzen. Nachdem ich mir die Berichte der Zeugen angehört hatte, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es sich tatsächlich so zugetragen hat. Darüber hinaus weisen die Berichte darauf hin, dass einige der Betäubungsschläge sich zu einer Art diffusem Feuerschlag zusammengeballt haben. Das war es, was den Jungen getötet hat.«
Vor Rothens innerem Auge blitzte das Bild einer schwelenden Gestalt auf. Eine jähe Übelkeit befiel ihn, und er senkte den Blick. Selbst wenn die Schläge nicht miteinander verschmolzen wären, hätten neunzehn Betäubungsschläge dem Körper des Jungen furchtbaren Schaden zugefügt. Rothen fühlte sich verantwortlich für das Geschehene. Wenn er doch nur selbst etwas unternommen hätte, bevor die anderen reagieren konnten …
»Dieser Vorfall wirft schwierige Fragen auf«, erklärte Lorlen nun. »Es ist unwahrscheinlich, dass die Öffentlichkeit uns glauben wird, wenn wir sagen, wir hätten lediglich einen Fehler begangen. Eine Entschuldigung genügt nicht. Wir müssen versuchen, Wiedergutmachung zu leisten. Sollen wir die Familie des Jungen entschädigen?«
Mehrere der Höheren Magier nickten, und Rothen hörte zustimmendes Gemurmel hinter sich.
»Falls man die Familie überhaupt finden kann«, bemerkte einer der Höheren Magier.
»Ich fürchte, eine Entschädigung wird den Makel, den wir unserem Ruf zugefügt haben, nicht aus der Welt schaffen.« Lorlen runzelte die Stirn. »Wie sollen wir den Respekt und das Vertrauen der Menschen zurückerlangen?«
Weiteres Gemurmel folgte, dann wurde eine einzelne Stimme laut: »Eine Entschädigung genügt.«
»Lasst einfach etwas Zeit verstreichen – die Leute werden schon vergessen«, sagte ein anderer Magier.
»Wir haben alles getan, was wir können.«
Und irgendjemand rechts von Rothen murmelte: »… nur ein Junge aus den Hüttenvierteln. Wen kümmert das schon?«
Rothen seufzte. Obwohl die Worte ihn nicht überraschten, weckten sie in ihm einen vertrauten Zorn. Dem Gesetz nach existierte die Gilde zum Schutz anderer – und dieses Gesetz machte keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Er hatte andere Magier sagen hören, dass die Hüttenleute allesamt Diebe seien und den Schutz der Gilde nicht verdient hätten.
»Viel mehr können wir kaum tun«, warf Lord Balkan ein. »Die oberen Klassen werden akzeptieren, dass der Tod des Jungen ein Unfall war. Die Armen werden es nicht akzeptieren, und nichts, was wir tun oder sagen könnten, wird ihre Meinung ändern.«
Administrator Lorlen sah die Höheren Magier einen nach dem anderen an. Alle nickten.
»Also schön«, sagte er. »Wir werden diese Angelegenheit bei der nächsten Versammlung noch einmal ansprechen, wenn wir Zeit hatten, die Auswirkungen dieser Tragödie abzuschätzen.« Er holte tief Luft, straffte die Schultern und sah sich in der Halle um. »Nun zum zweiten Punkt: der wilden Magierin. Hat außer Lord Rothen noch jemand dieses Mädchen gesehen oder beobachtet, wie sie den Stein geworfen hat?«
Schweigen folgte. Lorlen runzelte enttäuscht die Stirn. Die meisten Diskussionen bei den Gildeversammlungen wurden von den drei Dekanen der Disziplinen beherrscht: Lady Vinara, Lord Balkan und Lord Sarrin. Lady Vinara, das Oberhaupt der Heiler, war eine praktisch veranlagte, strenge Frau, die jedoch überraschend mitfühlend sein konnte. Der stämmige Lord Balkan besaß eine scharfe Beobachtungsgabe und legte Wert darauf, stets alle Seiten eines Problems zu beleuchten. Andererseits war er in der Lage, in einer Krise schnelle oder schwierige Entscheidungen zu treffen, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Der Älteste der drei, Lord Sarrin, konnte in seinem Urteil sehr hart sein, war jedoch stets geneigt, auch andere Meinungen gelten zu lassen.
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