Bei der Erinnerung daran schlug eine Woge des Zorns über Sonea zusammen. Einen Moment lang war sie abgelenkt, und das Bild verblasste, bis es mit der Wand verschmolz. Sie riss sich zusammen und befahl ihm, abermals zu erscheinen.
Als Nächstes beschwor sie ein Bild von Cery herauf, schmutzig und mager, und von dem Raum, in dem er eingekerkert gewesen war. Neben ihm stand, mit selbstgefälliger Miene, Fergun. Der Geruch von Essensresten und menschlichen Exkrementen floss von dem Gemälde in den Raum hinein.
Bei dieser Szene schüttelte das Bild von Lorlen den Kopf und wandte sich zu Sonea um.
— Das ist ungeheuerlich! Wir können wahrhaft von Glück sagen, dass der Hohe Lord deinen Freund heute gefunden hat.
Bei der Erwähnung des schwarzgewandeten Magiers spürte Sonea, wie das Bild sich veränderte. Als sie sich wieder zu der Wand umdrehte, folgte Lorlen ihrem Blick und sog scharf die Luft ein.
— Was ist das?
In dem Rahmen stand der Hohe Lord, angetan mit blutdurchtränkten Bettlerkleidern. Lorlen starrte Sonea fassungslos an.
— Wann hast du diese Szene beobachtet?
— Vor vielen Wochen.
— Wie? Wo?
Sonea zögerte. Wenn sie Lorlen diese Erinnerung zeigte, würde er wissen, dass sie die Gilde unbefugt betreten hatte. Er war nicht in ihren Geist eingedrungen, um das zu sehen, und sie war davon überzeugt, dass er sich nicht beschweren würde, wenn sie ihn aus dem Bild hinausschob.
Aber ein Teil von ihr wollte, dass er es sah. Inzwischen drohte ihr keine Gefahr mehr, wenn die Magier von ihrem Erkundungszug durch die Gilde erfuhren, und sie wollte unbedingt eine Antwort auf das Rätsel des schwarzgekleideten Magiers.
— Also schön. Angefangen hat es folgendermaßen …
Das Bild veränderte sich und zeigte nun Cery, der Sonea durch die Gilde führte. Sie spürte Lorlens Überraschung und dann seine wachsende Erheiterung, als das Bild von Szene zu Szene sprang. Im einen Moment spähte sie durch ein Fenster, im nächsten rannte sie durch den Wald, und schließlich betrachtete sie die Bücher, die Cery gestohlen hatte. Jetzt war Lorlens Belustigung unverkennbar.
— Wer hätte gedacht, dass Jerriks Bücher einen Weg zu dir gefunden haben? Aber was ist nun mit Akkarin?
Sie zögerte, diese Erinnerung zu enthüllen.
— Bitte, Sonea. Er ist unser Anführer und mein Freund. Ich muss es wissen. War er verletzt?
Sonea beschwor die Erinnerung an einen Wald herauf und ließ sie in das Gedankenbild einfließen. Wieder bewegte sie sich zwischen den Bäumen hindurch auf das graue Haus zu. Der Diener erschien, und sie versteckte sich zwischen den Büschen und der Mauer.
Abermals tauchte der Hohe Lord in dem Bild auf, diesmal bekleidet mit einem schwarzen Umhang. Der Diener kam herbei, und Sonea spürte, dass Lorlen ihn erkannte.
— Takan.
Es ist vollbracht, sagte der Hohe Lord, dann legte er seinen Umhang ab, und darunter kamen die blutbefleckten Kleider zum Vorschein. Angewidert blickte er an sich hinab. Hast du meine Roben mitgebracht?
Der Diener murmelte eine Antwort, und der Hohe Lord zog das Bettlerhemd aus. Der Ledergürtel, den er um die Taille trug, und die Dolchscheide kamen zum Vorschein. Er wusch sich, dann verschwand er kurz und kam in schwarzen Roben zurück.
Als Nächstes griff er nach der Scheide, zog den glitzernden Dolch heraus und wischte ihn an einem Tuch ab. Jetzt fing Sonea Überraschung und Verwirrung von Lorlen auf. Der Hohe Lord blickte seinen Diener an.
— Der Kampf hat mich geschwächt, sagte er. Ich brauche deine Stärke.
Der Diener ließ sich auf ein Knie nieder und hielt ihm den Arm hin. Der Hohe Lord fuhr mit der Klinge über die Haut des Mannes und legte dann eine Hand auf die Wunde. Sonea spürte das Echo eines seltsamen Flatterns in ihrem Kopf.
— Nein!
Eine Woge des Entsetzens schlug über ihr zusammen. Vor Schreck über die Wucht von Lorlens Gefühlen ließ Soneas Konzentration abrupt nach. Das Bild wurde schwarz, dann verschwand es zur Gänze.
— Das kann nicht sein! Nicht Akkarin!
— Was ist los? Ich verstehe das nicht. Was hat er getan?
Lorlen schien sich mit Macht zusammenzureißen. Sein Bild erlosch, und Sonea begriff, dass er ihren Geist verlassen hatte.
— Beweg dich nicht und öffne auch nicht die Augen. Ich muss nachdenken, bevor ich ihm wieder gegenübertrete.
Einige Herzschläge lang schwieg er, dann kehrte seine Aura zurück.
— Was du gesehen hast, ist verboten, erklärte er ihr. Es ist das, was wir schwarze Magie nennen. Mithilfe dieser Magie kann ein Magier von jedem lebenden Geschöpf, sei es Mensch oder Tier, Kraft beziehen. Dass Akkarin diese Magie benutzt hat, ist… ist unvorstellbar schrecklich. Er ist sehr mächtig – mächtiger als jeder andere von uns… Ah! Das muss der Grund für seine ungewöhnliche Kraft sein! Wenn das so ist, dann muss er diese verderbten Künste bereits praktiziert haben, bevor er aus dem Ausland zurückgekehrt ist …
Lorlen hielt inne, um diesem Gedanken nachzugehen.
— Er hat sein Gelübde gebrochen. Man sollte ihn seines Amtes entkleiden und verstoßen. Wenn er diese Kräfte benutzt hat, um zu töten, würde ihm seinerseits der Tod als Strafe drohen … aber …
Sonea spürte die Qual des Magiers. Erneut herrschte lange Zeit Stille in ihren Gedanken.
— Lorlen?
Er schien sich wieder gefasst zu haben.
— Ah, es tut mir Leid, Sonea. Er war mein Freund, seit wir beide als Novizen der Gilde beigetreten sind. So viele Jahre… Und ausgerechnet ich musste das entdecken!
Als er wieder zu sprechen begann, schwang in seinen Worten kalte Entschlossenheit mit.
— Wir müssen ihn aus dem Amt entfernen, aber nicht jetzt. Er ist zu mächtig. Wenn wir ihn deswegen zur Rede stellen und er gegen uns kämpft, könnte er ohne Weiteres siegen – und jeder Mord, den er begeht, würde ihn stärker machen. Wenn sein Geheimnis offenbar wird und er keinen Grund mehr hat, sein Verbrechen zu verbergen, könnte er wahllos jeden töten, der sich ihm in den Weg stellt. Die ganze Stadt wäre in Gefahr.
Entsetzt über das, was sie hörte, schauderte Sonea.
- Hab keine Angst, Sonea, beschwichtigte Lorlen sie. Ich werde es nicht zulassen. Wir dürfen ihn nicht zur Rechenschaft ziehen, bevor wir wissen, dass wir ihn besiegen können. Bis dahin darf niemand etwas von der Sache erfahren. Wir müssen unsere Vorbereitungen im Geheimen treffen. Das bedeutet, dass du niemals mit irgendjemandem über diesen Vorfall reden darfst. Hast du mich verstanden?
- Ja. Aber… müsst Ihr denn wirklich zulassen, dass er weiterhin der Anführer der Gilde bleibt?
- Bedauerlicherweise ja. Sobald ich weiß, dass wir stark genug sind, werde ich alle Magier um mich scharen. Ich werde sehr schnell handeln müssen und ohne Vorwarnung. Bis dahin darf außer dir und mir niemand etwas davon erfahren.
- Ich verstehe.
- Ich weiß, dass du zu den Hütten zurückkehren möchtest, Sonea, und es würde mich nicht überraschen, wenn diese Entdeckung dich in deinem Entschluss noch bestärkte, aber ich muss dich bitten zu bleiben. Wenn es zum Kampf kommt, werden wir alle Unterstützung brauchen, die wir bekommen können. Und obwohl mir der Gedanke nicht gefällt, befürchte ich, dass du ein verlockendes Opfer für ihn sein könntest. Er weiß, dass du sehr stark bist. Du wärst eine mächtige magische Quelle. Wenn man deine Kräfte blockiert und du nicht mehr in der Nähe jener lebst, die den Tod durch schwarze Magie erkennen können, wärst du das perfekte Opfer. Ich bitte dich um deinetwillen und um unseretwillen, bei uns zu bleiben.
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