»Lolth erwartet von ihren Priesterinnen ein gewisses Maß an Initiative und Eigenverantwortung«, erklärte die Herrin Arach-Tiniliths. »Aber sie erwartet auch Gehorsam. Sich zu ihr in ihr göttliches Heim zu begeben, um Antworten zu erhalten ... Lolth wird einen solchen Affront nicht amüsant finden.«
Halisstra schwieg und dachte über das nach, was Tzirik gesagt hatte. Reisen auf andere Ebenen waren ihr nicht fremd. Pharauns Zauber hatte die Gruppe durch die Ebene der Schatten reisen lassen, und es gab viele Universen, viele Himmel und Höllen, in die sich Sterbliche begeben konnten, wenn sie mit der richtigen Magie ausgestattet waren. Es gab Wunder und Schrecken, die die Grenzen der stofflichen Welt überstiegen, doch die Vorstellung, eine solche Reise ohne Lolths ausdrückliche Einladung zu unternehmen ängstigte Halisstra.
»Die Strafen, die uns erwarten, wenn wir in dieser Angelegenheit nicht Lolths Willen befolgen, werden gravierend sein«, gab Halisstra zu bedenken.
»Haben wir denn nicht soeben Lolths Willen gehört?« fragte Danifae. »Sie hat uns hierher geführt, damit wir diese Frage stellen. Das ist, als hätte sie uns ihren Befehl direkt erteilt. Sie könnte verärgert sein, wenn wir das nicht erkennen.«
Halisstra war es gewöhnt, sich sicher zu fühlen, wenn es darum ging, die Wünsche Lolths zu interpretieren. Bevor das göttliche Schweigen die Priesterinnen Lolths befallen hatte, war ihr die seltene Berührung durch das Flüstern Lolths in ihrem Geist vertraut gewesen. Es geschah nicht oft – schließlich war sie nur eine von Tausenden von Priesterinnen –, doch sie wußte, wie es sich anfühlte, bis ins Tiefste ihrer Seele zu verstehen, welchen Wunsch Lolth hatte und wie er zu erfüllen war. Doch jetzt fühlte Halisstra nichts. Offenbar wollte Lolth, daß sie es selbst herausfand.
Halisstra sah dorthin, wo die bronzene Maske Vhaerauns über einem schwarzen Altar hing. Die Fremdheit dieses Ortes war fast greifbar, ein Ausdruck für alles, was sie verloren hatte. Statt vor einem alten Altar im stolzen Tempel des Hauses Melarn zu stehen und von Lolths göttlicher Gewißheit erfüllt zu sein, während sie die Opferrituale und Demütigungen über sich ergehen ließ, die die Spinnenkönigin von ihr verlangte, stand sie allein und verloren da, ein Eindringling im Tempel eines vorgeblichen Gottes, während sie blindlings nach einem Hinweis suchte, was Lolth von ihr erwartete.
Sie stellte sich vor, wie sie vor Lolth trat, ihre Seele der Göttin entblößt, ihre Augen weit aufgerissen vom Anblick von Lolths finsterem Ruhm, ihre Ohren versengt vom Klang der zischenden Stimme der Spinnenkönigin. Vielleicht war es ein Affront zu glauben, Lolth werde ihre Zweifel auslöschen, Antworten auf ihre Fragen geben und ihr verletztes Herz heilen, doch Halisstra stellte zu ihrer Verwunderung fest, daß es sie nicht kümmerte. Wenn Lolth beschlossen hatte, sich ihrer zu entledigen und sie zu bestrafen, würde sie das auch tun. Warum hatte sie Ched Nasad und Haus Melarn vernichtet, wenn sie nicht Halisstra vor sich treten lassen und sie flehen hören wollte?
»Ich stimme mit Danifae überein«, sagte sie. »Ich wüßte nicht, welchem anderen Zweck das alles dienen soll, als uns vor den Thron Lolths zu bestellen. In ihrer Gegenwart werden wir unsere Antworten erhalten.«
Quenthel nickte und erklärte: »Ich deute ihren Willen nicht anders. Wir müssen uns in den Abgrund der Dämonennetze begeben.«
Ryld und Valas Hune tauschten besorgte Blicke aus.
»Eine Reise in die sechsundsechzigste Ebene des Abgrunds«, bemerkte Pharaun. »Ich habe von diesem Ort geträumt. Es wäre interessant, ob die Wirklichkeit mit meinem viele Jahre alten Traum einhergeht. Allerdings muß ich sagen, daß ich mich nicht freue, Lolth persönlich zu begegnen. Als ich diese Vision hatte, schlug sie meine Seele in Stücke. Ich brauchte Monate, um mich davon zu erholen.«
»Vielleicht sollten wir nach Menzoberranzan zurückkehren und berichten, was wir in Erfahrung gebracht haben, ehe wir irgend etwas überstürzen«, schlug Ryld vor. Er war beunruhigt über die Aussicht, sich in die infernalischen Reiche zu begeben.
»Nun, da ich den Willen Lolths verstanden habe, möchte ich keine Zeit verlieren, ihn zu erfüllen«, erklärte Quenthel. »Pharaun kann seinen Sendezauber verwenden, um Gromph von unseren Absichten zu unterrichten.«
»Aber«, wandte Valas Hune ein, »wie gelangt man denn eigentlich in den Abgrund der Dämonennetze?«
»Man muß sein Leben lang Lolth anbeten«, antwortete Quenthel mit einem finsteren Ausdruck in den Augen, »und dann sterben.«
Halisstra sah erst Quenthel, dann den Späher an und sagte: »Würde Lolth uns unsere Zauber gewähren, könnten wir das mit Leichtigkeit erledigen. Ohne sie wird es nicht einfach werden. Pharaun?«
»Ich werde bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, die erforderlichen Zauber lernen«, sagte der Magier. »Ich nehme an, ich werde einen fähigen Zauberer finden müssen, der über die notwendigen Zauber verfügt, und ihn überreden müssen, einen davon mit mir zu teilen.«
»Das wird nicht nötig sein, Pharaun«, sagte Tzirik. Er erhob sich und kam selbstsicher vom Podest herunter. »Mein Gott hat nicht entschieden, mich meiner Zauber zu berauben, außerdem bin ich daran interessiert, mit eigenen Augen zu sehen, was sich in Lolths Reich abspielt. Wir können heute abend aufbrechen, wenn Euch das recht ist.«
Kompanie um Kompanie marschierte die Armee der Schwarzen Spinne voller Stolz in die weite Höhle hinter den Säulen des Leids. Sie war nicht mit der weitläufigen Höhle Menzoberranzans vergleichbar, auch nicht mit den unvorstellbaren Weiten von Dunkelsee, doch die Ebene am Kopf der Schlucht war trotz allem beeindruckend – eine asymmetrische Ebene, die wohl einen Durchmesser von achthundert Metern hatte und deren Decke sich einige hundert Meter in die Höhe erstreckte. Unzählige Säulen trugen diese Decke, und Felsplatten ähnliche Nebenhöhlen verliefen in alle Richtungen wie Wege, die in die Finsternis zu locken schienen.
Nimor überblickte die Höhle von seiner Streitechse herab und sah zu, wie die großen Häuser Menzoberranzans einmarschierten und sich um ein Dutzend verschiedene Banner sammelten. Ihm blieben mehr als zwei Tage, um die diversen Spalten, Höhlen und Durchgänge auszukundschaften, die zu dieser freien Stelle führten. Der strategische Vorteil der Säulen des Leids war offensichtlich. Nur eine Straße verlief nach Süden und führte durch eine mühselig zu durchquerende Schlucht, während eine Reihe von Tunneln dort endeten, wohin er die Drow geführt hatte. Jeder von ihnen führte in das dunkle Reich Menzoberranzans.
»Ein guter Platz für eine Schlacht«, sagte er zu sich und nickte zufrieden.
Sein Reittier, das von Natur aus eine bösartige, aber dumme Bestie war, schien dumpf wahrzunehmen, daß ein Konflikt bevorstand. Das Tier fauchte und trat auf dem mit Kieseln übersäten Grund umher, der Schwanz zuckte aufgeregt hin und her.
Nimor wartete nahe der Mitte der Linie aus Spähern, die an der Spitze von fast hundert Reitern Agrach Dyrrs die Lücke zwischen den Säulen schlossen. Die Angehörigen seines Spähtrupps, die anderen Häusern treu waren, lagen zwischen den Felsen und Spalten in der Schlucht darunter, wo Nimor und seine Männer sie getötet hatten, kurz nachdem sie an den Säulen des Leids angelangt waren.
Nimor wäre nur zu gern hinaufgeritten, um Mez’Barris Arm-go, Andzrel Baenre und den Rest der Priesterinnen und Befehlshaber der Armee zu grüßen. Er sah den Pavillon, der soeben in der Mitte der Höhle aufgebaut wurde.
Das Problem bei einem Verrat, der sich über das gesamte Schlachtfeld erstreckte, war der, daß man einfach nicht überall sein konnte, um den Augenblick in seiner Gesamtheit zu genießen.
Er sah eine schmale Laufechse, die vom Befehlsstand auf dem Weg zu seiner Kompanie war.
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