»Das wäre ein Schauspiel, das ich gerne sähe«, sagte Nimor nachdenklich zu sich selbst.
Er vermutete, daß sich Baenre in einem solchen Szenario als stärker erweisen würde, als es die haßerfüllten Rivalen für möglich hielten, dennoch würde es ein spektakuläres Blutvergießen werden. Mehrere große Häuser würden untergehen, denn Baenre würde nicht allein in der Nacht verschwinden. Natürlich würde das den Plänen der Gesalbten Klinge der Jaezred Chaulssin sehr entgegenkommen.
Doch dieses Schauspiel würde für eine spätere Gelegenheit aufgespart werden. Nimor wollte Faen Tlabbar einen tiefen, nachhaltigen Schlag versetzen, das Haus aber nicht gegen das Haus Baenre aufbringen. Ghenni Tlabbar, Matrone des Dritten Hauses, würde durch seine Klinge sterben. Ihr Blut würde einen Verrat im großen Stil nach sich ziehen, und es würde dem Attentäter das Stilett in die Hand geben, das Nimor tief ins Herz von Menzoberranzan jagen wollte.
Ein schabendes Geräusch und das Klirren eines Kettenhemdes ließen Nimor aufmerksam werden. Er zog sich lautlos in den Schatten zurück und wartete geduldig ab, während eine Staffel Tlabbar-Krieger auf großen Reitechsen an einem kleinen, unbearbeiteten Stalaktiten ganz in der Nähe nach oben kletterten. Die blassen Reptilien hatten an ihren Füßen große, klebrige Flächen, die es ihnen erlaubten, auch an der steilsten Oberfläche Halt zu finden. Viele Adelshäuser in Menzoberranzan setzten diese Wesen ein, um in weit oben gelegenen Bereichen der weitläufigen Höhle zu patrouillieren. Faen Tlabbar war darüber hinaus für seine Echsenkavallerie bekannt. Nimor hatte seit über einer Stunde von seinem Posten aus die Tlabbar-Patrouillen beobachtet und immer wieder deren Runden sorgfältig mitgestoppt.
Genau zur erwarteten Zeit, stellte Nimor fest. Ihr werdet berechenbar, Jungs.
Die Reiter hielten Armbrüste und Lanzen einsatzbereit, während sie im Gänsemarsch dahinhuschend um den kleineren Stalaktiten kreisten und die Höhlendecke absuchten. Wie Nimor erwartet hatte, bog der Anführer nach links ab und folgte der Kurve, die die steinerne Spitze beschrieb, nach unten, bis er nicht mehr zu sehen war.
»Ihr wärt gut beraten, von Eurer Routine abzuweichen, Hauptmann«, flüsterte Nimor, der der Reiterstaffel nachsah. »Ein tapferer Kamerad wie ich könnte ja glatt durch die Möglichkeit abgeschreckt werden, Ihr könntet überraschend zurückkehren.«
Mit einem Satz sprang Nimor nach vorn und tauchte in die ewige Nacht.
Durch eine unglückliche Felsformation nahm Haus Tlabbar nur wenig vom Dach der Stadt und von den oberen Höhlen für sich in Anspruch. Eine große Säule und ein Paar kleinerer Stalaktiten verbanden Tlabbar mit der Decke, so daß es unmittelbar über dem Dach des Palastes eine nicht einsehbare Stelle gab. Diese Schwäche wollte Nimor nutzen. Sein schwarzer Mantel flatterte hinter ihm, und kalte Luft wehte ihm ins Gesicht. Er verzog den Mund zu einem Grinsen und genoß die langen Sekunden, die sein großer Sprung dauerte. Sein Körper war von den finsteren Feuern seine Abstammung erfüllt, und er sehnte sich danach, seine dreiste Verkleidung abzustreifen, doch war dies nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
Noch im Fallen sprach er die Worte eines Zaubers, der ihn unsichtbar machte. Als die speergleiche Spitze des Hauptpalastes von Faen Tlabbar rasend schnell näherkam, stoppte Nimor seine Abwärtsbewegung abrupt, indem er seine Levitationskraft einsetzte. Keine sechs Herzschläge nach dem Moment, da er von dem verlassenen Stalaktiten heruntergesprungen war, landete Nimor unsichtbar und unbemerkt auf dem messerscharfen First eines steil nach oben ragenden Saals. Er lauschte, ob ein Geräusch daraufhindeutete, daß man ihn entdeckt hatte, dann bewegte er sich mit Schritten, die so leise waren wie der Tod, zu der Stelle, an der der Saal in die Burg überging.
Die Drow von Faen Tlabbar waren sich durchaus bewußt, daß Angriffe, die von oben herab geführt wurden, für sie gefährlich werden konnten, daher waren die Zinnen und Kuppeldächer auf dem Palast mit aufmerksamen Wachtposten besetzt, die nach Eindringlingen Ausschau hielten. Nimor ging ihnen sorgfältig aus dem Weg. Diejenigen von ihnen, die unsichtbare Gegner sehen konnten – und das waren nicht wenige –, waren es nicht gewöhnt, nach einem unsichtbaren Angreifer Ausschau zu halten, der zudem noch mit der Verstohlenheit eines meisterhaften Assassinen von Schatten zu Schatten wechselte. Größere Sorgen bereiteten Nimor die diversen magischen Barrieren, die das Haus abschirmten. Aus Gewohnheit schützte er sich mit Zaubern, die darauf ausgelegt waren, die unterschiedlichsten Formen magischer Aufspürung zu unterlaufen oder zu stören, doch seine Zauber war nicht narrensicher.
Grüngoldenes Licht umgab ihn schimmernd, als er über die steilen Ziegel des Dachs eines quadratischen Turms schlich. Die Faen Tlabbar nutzten wie viele andere Häuser Magie, um die barocken Spitzen und Balkone ihres Heims zu beleuchten und zu verzieren. Nimor legte sich auf den Bauch und robbte kopfüber ein Stück weit nach unten, während er aufmerksam horchte. Er erwartete, unter sich einen Wachtposten und einen Eingang in den Palast vorzufinden. Über Jahrzehnte hinweg hatten die Jaezred Chaulssin Ausspähungsmagie eingesetzt, um so viel wie möglich über die Bauweise und die Verteidigungseinrichtungen vieler großer Häuser in mehr als einer Drow-Stadt in Erfahrung zu bringen. Der schlanke Assassine hatte die Notizen und Pläne genau studiert, die seine Bruderschaft über das Haus Tlabbar zusammengestellt hatte. Natürlich waren diese Informationen unvollständig und veraltet, da Teile des Palastes gegen jegliche Form der Ausspähung abgeschirmt waren. Hinzu kam, daß sich die Jaezred Chaulssin erst seit kurzer Zeit die Häuser von Menzoberranzan vorgenommen hatten. Nimor wäre es lieber gewesen, seine Angabe zu aktualisieren, indem er eine der Tlabbar-Wachen bestach oder gefangennahm, doch ihm fehlte die Zeit, um das in die Wege zu leiten und dabei auch noch im Plan zu bleiben, den er sich selbst gesetzt hatte.
Von dem Balkon unter der Dachtraufe waren leise Geräusche zu hören, die durch Bewegungen verursacht wurden. Vermutlich zwei Männer, mindestens aber einer im Kettenhemd. Er mußte schnell handeln, denn ein einziger Schrei konnte das Ende seines Angriffs auf das Haus bedeuten. Mit berechnender Geduld rutschte Nimor ein Stück weiter und stellte fest, daß sich unter der überhängenden Traufe ein geschwungener, offener Gang befand. Links ging der Gang in ein Treppenhaus über, das zu den unteren Zinnen führte, während er zu seiner Rechten an einem schwarzen Durchgang endete. Die Tür stand offen. Unmittelbar unter ihm stand ein Drow in Rüstung und beobachtete den Hof.
Volle dreißig Herzschläge lang studierte Nimor den Mann und plante seine Vorgehensweise, während er lautlos seinen Dolch zog. Die Klinge war aus grünlich-schwarzem, verzaubertem Stahl und glitzerte feucht im Schimmer des Feenfeuers. Nach wie vor unsichtbar rollte er sich vom Dach und landete hinter dem Tlabbar-Wachmann.
Als die Füße des Assassinen auf den Steinplatten auftrafen, gab es ein leises Geräusch, das genügte, um den Wachmann zu veranlassen, sich umzudrehen. Er öffnete den Mund, um einen Ruf auszustoßen, doch mit einer einzigen, unerbittlichen Bewegung legte Nimor seine Hand auf den Mund des Mannes und stieß den Dolch tief von unten in den Schädel. Die Klinge glitt über Knochen, und der Tlabbar-Wachmann war schon tot, als er in Nimors Arme sank.
Nimor ließ den Leichnam zu Boden fallen und sah hinüber zum anderen Wachposten, einem Mann, der das schwarze Gewand eines Magiers trug. Der Tlabbar-Magier wandte sich um, da er die unvermeidlichen Geräusche des Angriffs wahrgenommen hatte, und sah, wie der Mann scheinbar grundlos zusammenbrach – schließlich war Nimor noch immer unsichtbar.
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