Wollt Ihr darüber reden? signalisierte Ryld diskret in der hochentwickelten Zeichensprache der Drow.
Worüber?
Über das, was Euch solche Sorgen macht. Etwas macht Euch zu schaffen, Priesterin.
Es ist nichts, was einen Mann angeht, gab sie zurück.
Natürlich. Wie immer.
In der kleinen Kammer trafen sich ihre Blicke. Halisstra stellte überrascht fest, daß Rylds Gesicht zu einer Mischung aus verbitterter Resignation und sarkastischer Belustigung verzogen war. Sie betrachtete ihn eindringlich und versuchte zu ergründen, was ihn dazu bewegte, sich mit ihr unterhalten zu wollen.
Für einen Mann – genaugenommen sogar für einen Drow überhaupt – war er kräftig gebaut und sehr groß, in etwa so groß wie sie selbst. Sein kurzgeschnittenes Haar war eine exotische Affektiertheit in der Drow-Gesellschaft, eine sonderbar asketische Nüchternheit für ein Volk, das sich an Schönheit und persönlicher Kultivierung erfreute. Im Umgang miteinander waren Drow rücksichtslos pragmatisch, doch nicht, wenn es um ihr Äußeres ging. Halisstras Erfahrungen mit Männern nach putzten sich die meisten von ihnen doch nur fein heraus und hatten eine Vorliebe für einschmeichelnde Eleganz und tödliche Tücke. Pharaun stand genau für diesen Typ. Doch Ryld – das wurde ihr nun klar – war von einem anderen Schlag.
Ihr kämpft gut, erklärte sie – es war keine Entschuldigung, die an einen Mann gerichtet war, und doch war es ... etwas. Ihr hättet mich in Ched Nasad sterben lassen können, und doch habt Ihr Euer Leben aufs Spiel gesetzt, um mich zu retten. Wieso?
Wir hatten eine Abmachung. Ihr brachtet uns in Sicherheit, und wir halfen Euch.
Aber ich hatte zu der Zeit die Abmachung einseitig aufgekündigt. Es gab keinen Grund, Eure Seite zu halten.
Es gab keinen Grund, sie nicht zu halten. Ryld lächelte und wechselte zu einem leisen Flüstern. »Abgesehen davon scheint es so, als sei es in meinem Interesse gewesen, Euch zu retten. Vor gerade einmal einer Stunde habt Ihr mein Leben gerettet. Wir stehen gegenseitig in unserer Schuld.«
Halisstra mußte lachen, jedoch so leise, daß man in drei Metern Entfernung davon nichts mehr hörte.
Wir sind kein Volk, das seine Schulden ehrt, signalisierte sie.
Dies ist mir mehr als einmal klargemacht worden, erwiderte Ryld. Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht, und Halisstra fragte sich, wem genau der Meister Melee-Magtheres vertraut hatte und warum er so dumm gewesen war. Ehe sie fragen konnte, fuhr er fort: Erzählt mir von den Bae’qeshel. Ich weiß nichts über sie.
»Traditionell«, flüsterte sie, »werden unsere Magier, Schwertkämpfer und Kleriker an Akademien ausgebildet. Das gilt jedenfalls für die meisten Drow-Städte. Der Grund, weshalb Ihr nichts von den Bae’qeshel wißt, ist, daß die Gesangsausbildung keine öffentlich bekannte Sache ist. Es gibt immer eine Herrin und eine Schülerin.«
»Ich dachte, die Adelshäuser hätten keine nennenswerte Verwendung für bürgerliche Minnesänger.«
»Die Bae’qeshel sind keine bürgerlichen Minnesänger, Waffenmeister«, gab Halisstra mit gesenkter Stimme zurück. »Wir sind eine stolze, uralte Sekte, die Bae’qeshel Telphraezzar , die Flüsterer der Dunklen Königin. Ich bin eine Priesterin Lolths, so wie auch die anderen Frauen meines Hauses, aber ich wurde als junges Mädchen auserwählt, mich über viele Jahre hinweg mit der Bae’qeshel -Geschichte zu befassen. Ich verehre Lolth nicht einfach nur mit meinem Dienst als ihre Priesterin, sondern auch mit dem Geschenk, die alten Gesänge unseres Volks anzustimmen, die in ihren Ohren so wohlklingend sind. Das Haus Melarn war immer schon stolz darauf, in jeder Generation in der Schwesternschaft im Dienste von Lolth eine Bae’qeshel hervorzubringen.«
»Wenn Eure Lieder Lolth geweiht sind, wieso funktionieren sie, während andere Zauber versagen?« wollte Ryld wissen.
»Weil die Lieder eine eigene Macht besitzen, so wie die Zauber eines Magiers. Wir lenken nicht die göttliche Macht Lolths, um unsere Lieder zu wirken. Leider sind meine Talente nichts im Vergleich zu der göttlichen Macht, die ich in Lolths Namen wirken könnte, wenn sie mir wieder günstig gesonnen wäre.«
»Nichtsdestoweniger ein interessantes Talent«, murmelte er. Ryld warf einen Blick in Richtung des Ganges zu der Kammer, in der die anderen warteten. »Es scheint alles ruhig zu sein. Es könnte aber noch eine ganze Weile dauern. So wie ich Pharaun kenne, wird er Stunden brauchen, ehe er wieder zu Kräften gekommen ist. Sagt, spielt Ihr Sava ?
Nimor hielt sich im Schatten eines gigantischen Stalaktiten, einem der vielen steinernen Reißzähne, die von der Decke der gewaltigen Höhle herabreichten, in der Menzoberranzan gelegen war. Alte Gänge und gefährliche Pfade überzogen das Dach der Stadt, und viele riesige Stalaktiten waren zu düster-schönen Burgen verwandelt worden, die angesichts ihrer trotzigen Arroganz noch spektakulärer wirkten. Nur Drow waren dazu fähig, aus einer zerbrechlichen Steinspitze, die dreihundert Meter über dem Höhlenboden hing, ein Heim zu schaffen. Hochwohlgeborene Drow besaßen oft eine ihnen eigene Magie oder verzauberte Medaillons, die sie von jeglicher Sorge wegen der großen Höhe befreiten und die sie kaum einmal über die schwindelerregenden Aussichtspunkte nachdenken ließen, die sogar Fledermäusen Angst machen würden. Ihre Sklaven und Diener dagegen hatten nicht dieses Glück, so daß das Leben in einer von der Decke ragenden Spitze für sie etwas permanent Nervenaufreibendes hatte.
Die wichtigeren Stalaktiten waren selbstverständlich magisch verstärkt worden, um sie vor dem unvermeidlichen Absturz zu bewahren, und sie würden so lange dort verharren, bis die Magie selbst versagte. Dennoch war mehr als einer der stolzen alten Paläste verlassen und von einer dicken Staubschicht überzogen, da das Haus, das ihn einst beansprucht hatte, in der Kunst der Magie nicht bewandert genug war, um die Zauber aufrechtzuerhalten, die das Bauwerk bewohnbar machten. Es war einer jener leerstehenden Paläste, in dem sich Nimor versteckt hielt und von dem aus er nach unten in den dunklen Abgrund sah, in dem sich sein Ziel befand.
Das Haus Faen Tlabbar, das Dritte Haus Menzoberranzans, lag ein Stück weit nach links unterhalb seines Beobachtungspunktes. Die Burg erstreckte sich über mehrere hochaufragende Stalagmiten und Säulen, und ihre eleganten Balustraden und die weit emporragenden Bereiche täuschten über die darunter befindliche Macht der ausladenden Türme und die gewaltigen Bollwerke aus dunklem Stein hinweg. Faen Tlabbar war eines der größten und prachtvollsten jener Bauwerke in Menzoberranzan, die nicht auf dem Hochplateau von Qu’ellarz’orl gelegen waren, dem angesehensten der Adelsbezirke der unterirdischen Stadt. Statt dessen reichte das Haus an der südlichen Wand der großen Höhle von Menzoberranzan so weit hinauf, daß die höchsten Türme das Plateau überstiegen, in dessen Schatten das Haus lag, so als hätten die Matronen des Dritten Hauses über den Rand jener Hochebene spähen wollen, um eifersüchtig auf jene Häuser blicken zu können, die das Glück hatten, auf einer Ebene mit dem bedeutenden Haus Baenre zu stehen.
Es war eine treffende Analogie für die politischen Manöver Faen Tlabbars. Nur zwei Häuser standen in der düsteren Hierarchie Menzoberranzans über ihm, und zwar Baenre als Erstes und Barrison Del’Armgo als Zweites Haus. Nimor hielt es für wahrscheinlich, daß Muttermatrone Tlabbar sich für ihr Haus Großes erhoffte. Del’Armgo, das Zweite Haus, war stark, konnte aber nicht viele Verbündete vorweisen. Baenre, das stärkste Haus, war so schwach wie schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Häuser wie Faen Tlabbar sahen die Baenre und mußten automatisch an Jahrhunderte totaler Arroganz und demütigender Herablassung denken, und man fragte sich, ob die Zeit gekommen war, daß sich mehrere schwächere Häuser zusammenschlössen und die Vorherrschaft der Baenre ein für allemal beendeten.
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