In einem der Wagen waren Bewegungen zu hören. Ein Frau mit einem Armvoll Kleidung und Wasser kletterte hinein. Das Kind schrie wieder.
Neben der Axt vertrauen die Nomaden auf das Alar-Schwert, eine lange, schwere, zweischneidige Waffe. Ihre Schilde sind meistens von ovaler Form wie die der Turianer. Zum Reiten benutzen sie den mittelschweren Satteltharlarion, der zwar kleiner und schwächer als der normale Hohe Tharlarion, dafür aber wesentlich schneller und flinker ist. Die Sättel verfügen über Steigbügel und ermöglichen deshalb den Einsatz der eingelegten Stoßlanze. Manche Städte setzen die Alar als Tharlarionkavallerie ein. Aber es gibt auch viele, die davon nichts wissen wollen und die Nomaden nicht einmal als Hilfssoldaten einstellen würden, geschweige denn als reguläre Truppen. Wenn die Alar in die Schlacht reiten, haben sie zumeist ihre Wagenburg im Rücken, in die sie sich im Fall der Niederlage schnell zurückziehen können. Auf offenem Feld sind es wilde, gefürchtete Krieger. Sie verstehen jedoch nur wenig von Politik oder Belagerungstechnik. Die angegriffene Stadt muß lediglich die Tore schließen und darauf warten, daß die Nomaden weiterziehen, was wegen der Bedürfnisse ihrer Tiere unausweichlich ist.
Eine Frau stieg aus dem Wagen, ein kleines Bündel im Arm. Sie kam zum Feuer, und Genserix gab ihr mit einer Geste zu verstehen, daß sie das Bündel zwischen ihm und dem Feuer auf den Boden legen sollte. Sie gehorchte. Dann bückte er sich und schob mit den großen Händen behutsam die Decke beiseite. Das winzige Kind lag nun vor ihm; es war kaum dazu in der Lage, den Kopf von einer Seite auf die andere zu drehen; nur Minuten alt, schnappte es in winzigen Zügen nach Luft. Die furchteinflößende neue Erfahrung des Atmens hatte nach der nun unwiederbringlich verlorenen Zuflucht des Mutterleibs noch nichts von ihrem Schrecken eingebüßt; das galt auch für das Durcheinander der vielen anderen Eindrücke. Die Nabelschnur war durchtrennt und am Bauch abgebunden worden. Der kleine, heiße, krebsrote Körper war von Blut und allen anderen Flüssigkeiten gesäubert worden. Dann hatte man ihn mit Tierfett eingerieben. Wie winzig waren Kopf und Finger! Wie überraschend und wunderbar schien es, daß so ein zartes Wesen überhaupt leben konnte! Genserix sah es eine Zeitlang an, drehte es dann um und betrachtete es noch länger. Dann legte er es wieder auf den Rücken. Er stand auf und blickte auf das Neugeborene hinab.
Die um das Feuer sitzenden Krieger, die Frau und ihre beiden Geschlechtsgenossinen, die ebenfalls den Wagen verlassen hatten, sahen ihn an.
Genserix bückte sich und hob das Kind auf. Die Frauen stießen Begeisterungsschreie aus, die Männer grunzten zustimmend. Glücklich hielt Genserix das Kind fest, wobei es fast in seinen großen Händen verschwand, und hob es dann hoch über den Kopf.
»Ho!« riefen die Krieger und standen auf. Die Frauen strahlten.
»Es ist ein Sohn!« rief eine der Frauen.
»Ja!« erwiderte Genserix. »Es ist ein Sohn.«
»Ho!« riefen die Krieger. »Ho!«
»Was geschieht da?« fragte Feiqa.
»Das Kind wurde begutachtet«, erklärte ich. »Es ist für gut befunden worden. Es darf leben. Jetzt gehört es zu den Alar. Außerdem hat er das Kind hochgehoben. Damit erkennt er es als das seine an.«
Genserix reichte das Kind einem der Krieger. Er zog ein Messer.
»Was tut er denn jetzt?« stieß Feiqa hervor.
»Sei still!« befahl ich.
Genserix machte vorsichtig zwei Schnitte in das Gesicht des Säuglings, einen auf jede Wange. Das Kind fing an zu schreien. Blut lief die Wangen hinunter, den Hals entlang, bis auf die kleinen Schultern. »Bringt ihn zu seiner Mutter«, verlangte Genserix.
Die Frau, die das Kind ans Feuer gebracht hatte, hob die Decke auf, wickelte den Säugling wieder darin ein, nahm ihn dem Krieger ab und kehrte zum Wagen zurück.
»Das ist ein Kriegervolk«, sagte ich zu Feiqa. »Das Kind ist ein Alar. Bevor es die erste Milch erhält, muß es lernen, Schmerzen zu erdulden.«
Feiqa zuckte zusammen, voller Angst, sich in Gegenwart solcher Männer aufzuhalten. Auf Genserix’ Wangen waren genau wie auf den Gesichtern der Umstehenden schmale weiße Narben zu sehen, die der Welt verkündeten, daß er zu seiner Zeit die gleiche Zeremonie erduldet hatte. An solchen Narben konnte man die Alar erkennen.
»Ich freue mich über dein Glück«, sagte ich zu Genserix, der seinen Platz am Feuer wieder eingenommen hatte. Genserix neigte lächelnd den Kopf und breitete die Hände aus.
»In Zeiten solchen Glücks kann man darauf verzichten, dich zu töten, weil du ohne Einladung in unser Lager gekommen bist«, sagte ein Mann, der sein langes schwarzes Haar mit einem perlenverzierten Lederband zurückgebunden hatte.
»Nicht so schnell!« wandte ich voller Unbehagen ein. »Im Lager der Kutscher, die den Nachschub für Cos transportieren, sagte man mir, daß ich hier vielleicht Arbeit finden könnte.«
Ein paar der Männer schlugen sich belustigt auf die Schultern.
»Also nehme ich an, daß das nicht der Wahrheit entspricht«, sagte ich.
»Sollen wir ihn trotzdem umbringen?« fragte einer der Krieger.
»Es kommen doch sicher oft Leute vorbei«, meinte ich.
»Du darfst Parthanx und Sorath nicht beachten«, meinte ein breitschulteriger großer Mann, der mit überkreuzten Beinen neben mir saß. Wie Genserix hatte er langes blondes, zu Zöpfen geflochtenes Haar und einen Schnurrbart. Er hatte auch blaue Augen. Helle Haut, blonde Haare und blaue Augen sind unter den Alar weitverbreitet. »Sie machen nur Spaß. Sie sind unsere Scherzbolde. Wie du weißt, kommen viele Leute zu den Wagen, Informanten, Sklavenhändler, Kaufleute, Schmiede, Handwerker, Bauern, die Lebensmittel für Häute und Schmuckstücke eintauschen wollen, und noch viele mehr. Andernfalls besäßen wir weder die Dinge, die wir nun einmal besitzen, noch erführen wir Neuigkeiten. Wir wären von der Welt abgeschnitten und könnten unsere Angelegenheiten niemals so wohlüberlegt regeln, wie das unsere Art ist.«
Ich nickte. Völker wie die Alar ziehen durch besiedelte Gebiete. Sie müssen sich nicht auf große Ebenen beschränken wie beispielsweise einige der subäquatorialen Stämme der Wagenvölker wie die Tuchuks oder Kassar.
Parthanx und Sorath stießen sich freundschaftlich an, erfreut über ihren Scherz.
»Bringt Armreifen!« rief Genserix.
»Ich bin Hurtha«, sagte der blonde Mann an meiner Seite. »Du darfst uns nicht für Barbaren halten. Erzähl uns von den Städten.«
»Was möchtest du gern wissen?« fragte ich, obwohl ich es mir denken konnte. Er würde sich für den Zustand ihrer Mauern, die Anzahl der Tore, ihre Verteidigung, die Stärke ihrer Garnisonen und ähnliches mehr interessieren.
»Ist Ar so schön, wie man sich erzählt?« fragte er. »Und wie ist es, dort zu leben?«
»Ar ist sehr schön«, sagte ich. »Und obwohl ich weder Bürger von Ar noch von Telnus bin, der Hauptstadt von Cos, ist das Leben dort zweifellos einfacher als hier zwischen den Wagen. Warum fragst du?«
»Hurtha ist ein Schwächling und ein Dichter!« lachte Sorath.
»Ich bin Krieger und ein Alar«, sagte Hurtha. »Aber es ist richtig, daß ich Gedichte mag.«
»Buchstaben und Waffen sind nicht unvereinbar«, sagte ich. »Oft sind die größten Soldaten begabte Männer.«
»Ich habe daran gedacht, dorthin zu gehen, um mein Glück zu suchen«, sagte er.
»Was tätest du dort?«
»Mein Arm ist stark, und ich kann reiten.«
»Würdest du dich bei einem Hauptmann verdingen?«
»Ja«, antwortete er. »Wenn möglich, bei dem besten.«
»Auf Gor gibt es viele Streitigkeiten«, sagte ich. »Wie auch viele Hauptmänner.«
»Zuerst könnte ich mich bei irgend jemandem verdingen.«
»Viele Hauptmänner wählen ihre Aufträge auf den Waagen der Kaufleute aus«, sagte ich. »Sie wägen Eisen gegen Gold ab. Sie kämpfen für den Ubar mit dem umfangreichsten Geldbeutel, fürchte ich.«
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